Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust

22. Mai 2022
3 Minuten Lesezeit

Der Zweite Weltkrieg ist einer der bedeutendsten und schrecklichsten Kriege der Weltgeschichte. Millionen Tote, Hunderttausende, die ihre Wurzeln aufgeben und ihr gesamtes Leben hinter sich lassen mussten oder gar alles verloren haben. Die Auswirkungen dieser grauenhaften Jahre zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus sind bis in die heutige Zeit vorhanden, wenn auch nicht immer prompt spürbar. Noch gibt es Zeitzeugen, die von ihren Erlebnissen berichten können und noch gibt es Künstler:inen und Initiativen, die sich mit genau diesen Geschichten auseinandersetzen.

Diese historische Graphic Novel, also eine Graphic-Historie, ist eines dieser Werke. Mit „Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust“ hat der Verlag C.H. Beck eine eindrucksvolle Sammlung von drei Geschichten herausgebracht.
Die Autor:innen und Zeichner:innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar trafen vier Menschen, die ihnen ihre Geschichte während des Holocausts erzählten.
Im Anhang findet sich nicht nur ein Dialog der Künstler:innen über ihre Arbeitsweise und den Entstehungsprozess, sondern auch ein jeweiliges Essay, das jeden Zeitzeugenbericht in einem historischen Kontext noch einmal sachlich beleuchtet.

Drei Geschichten, deri Künstler

Den Start dieses Werks macht die Künstlerin Barbara Yelin, die die mittlerweile in Israel lebende Emmie Arbel interviewte. Ganz im Stile einer Dokumentation erleben wir Szenen des Interviews, des alltäglichen Miteinanders zu ihren Nachbarn und Verwandten, aber eben auch immer wieder Erinnerungen an ihre Zeit in Ravensbrück und Bergen-Belsen.

Eine vermeintliche Kleinigkeit (wie ein silberner Löffel in einer Zuckerdose) fördert eine grauenhafte Geschichte an den Tag. Sie wurde in den Niederlanden geboren, woran sie sich noch ein wenig erinnere. Den Großteil ihrer Kindheit verbrachte sie jedoch in einem der Konzentrationslager. Erst in den Niederlanden, dann im Frauen-KZ Ravensbrück (bei Fürstenberg/Havel) und später im Durchgangslager Bergen-Belsen (im Kreis Celle bei Hannover). Im letzteren verblieben sie bis zum Ende des Krieges und ihrer Befreiung. In diesem Lager starb ihre Mutter nur wenige Tage nach der Befreiung – wie über 50.000 andere Menschen – wegen der katastrophalen Unterbringung und mangelhaften Versorgung.

Die einfühlsame Art, ihre Bilder zu gestalten, ausschließlich Aquarelle, hauptsächlich in Blau- und Brauntönen, erzeugen eine ergreifende Wirkung. Viele der „Panels“ der Künstlerin Barbara Yelin wirken wie Stillleben oder Porträts mit äußerster Feinheit zwischen den teils ineinanderlaufenden Farbflächen. Die Stimmung ist erdrückend und grauenvoll unmenschlich. Doch zeigt vor allem Emmie Arbel, worin man seinen Lebensmut finden kann. Eine versöhnliche Note beendet dieses Kapitel.

In der darauffolgenden Episode berichtet die Künstlerin Miriam Libicki von der Flucht- und Wanderung des David Schaffer. Dieser wurde von der mit den Nazis kollaborierenden Satellitverwaltung gezwungen umzusiedeln, ein Vernichtungslager zum Ziel. Da sich bereits Gerüchte unter den Deportierten breitmachten, floh David und seine Familie in die Wälder Rumäniens. Er beschreibt in seiner Geschichte, in der er innerhalb dieses Kapitels selbst als Erzähler vor Kindern gezeigt wird, wie sie jahrelang nur knapp überlebten. Seine Familie lebte von den Schätzen der Wälder, geklauter Ernte, mitfühlenden Bauern und Regimegegnern, die sie unterstützten und ihnen sogar Ställe überließen. Innerhalb dieses Kapitels wird klar, wie wenig klar so vieles war. Jeder Tag, jede Suche nach Nahrung, jeder Kontakt zu Menschen konnte bedeuten, dass ihre Existenz enden würde.

Bunte und kräftige Linien, die überzeichnet karikierend aussehen, zeigt Libicki zur Erzählung. Es bildet einen kontrastierend visuellen Eindruck. Die in der Erinnerung verankerten Schrecken spielen in dieser Geschichte daher in überstilisierten Nadelwäldern und Kulissen, die an Puppenspielbühnen erinnern. Ebenso scheinen die Figuren mit ihren übergroßen Augen, den starken Expressionen und ihrer gesamten Physis stark angelehnt an Puppen. Es bietet interpretativen Spielraum, inwieweit David und seine Familie Herren ihres eigenen Schicksals waren oder wie wenig Kontrolle sie über eigene Handlungen hatten.

Die letzte Episode wird von den Brüdern Kamp erzählt und durch die fähigen Hände des Gilad Seliktar visualisiert. Sie berichten, dem Stil der ersten Episode ähnlich, in dargestellten Szenen eines Interviews von ihren Kriegsjahren. Diese verbrachten sie fast ständig in Bewegung und versteckten sich an 13 unterschiedlichen Orten in den Niederlanden vor den Fängen der Nationalsozialisten und ihrem systematischen Genozid. Darin erzählen die Brüder mal einzeln jeder seine Perspektive, mal zusammen über ein Ereignis, wie sie es schafften, den Krieg zu überleben, ohne ein Konzentrationslager von innen gesehen zu haben. Spannend dabei ist, dass sich zeigt, wie sehr eine Perspektive eine Geschichte verändern kann. Hier und da geschieht es, dass sie sich gegenseitig korrigieren und Details hinzufügen, die genau so in die Erzählung einfließen.

In nur zwei Farben und leichtem Strich, man siehe das Cover, gelingt es dem Künstler Atmosphäre und Abstraktion zu vereinen. Die komplementären Farben Gelb und Blau in Pastellton ergeben neben den reduzierten Zeichnungen ein tristes, wenn auch paradox freies Gefühl eines gefährlichen Alltags. Zudem wird durch die gewählten digitalen Pinsel der Eindruck eines Pigmentstifts erweckt, der bei Schraffuren die Struktur des Papiers hervorhebt. Ein kleines, wenn auch wichtiges Detail für die gesamte Wirkung dieses Stils.

Fazit
„Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust“ ist ein sagenhaft ergreifendes Werk. Die gezeigten Lebensgeschichten werden mit viel Feingefühl und Liebe zum Detail erzählt. Durch die im Anhang befindliche historische Einordnung durch den Verlag C.H. Beck gewinnt jedes Kapitel eine weitere Ebene des Verständnisses. Außerdem werden die Künstler:innen und ihre Arbeitsweisen, ihr Bezug zur Historie der befragten Personen und deren Motive beleuchtet. Selten erhält man aus einer Graphic Novel einen so umfassenden Einblick in die Handlung, Entstehung und die wahrhaftige Historie. Dies ist definitiv eines der Werke, die sich dringend anbieten, im schulischen Kontext behandelt zu werden, gleichermaßen auf die Kunst und die Geschichte eingehend. Vier Zeitzeugen, drei Künstler und eine große Empfehlung für jeden historisch interessierten Menschen!
Pro
Eindringliche Darstellung von Holocaust-Überlebenden; unterschiedliche künstlerische Stile fördern das Geschichtenerzählen; umfassender historischer Kontext bereitgestellt.
Kontra
Potenziell emotional intensiv; Die begrenzte Farbpalette spricht möglicherweise nicht alle Leser an.
9.4

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Über den Autor

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.