Das Cover von „Jene Tage, die verschwinden“ zeigt einen bis zu den Hüften im Wasser stehenden Mann. Seine Geste strahlt Hilflosigkeit aus, denn in der Spiegelung des wellenschlagenden Wasser erkennt man ein finster dreinblickendes Alter-Ego. Dessen Augen scheinen zu glühen. Die dadurch geschürte Erwartungshaltung an diese Graphic-Novel setzt die Messlatte der Illustrationen und des Plots hoch an. Ob der von Timothé le Boucher geschaffene Comic diese eigens gesetzte Höhe überspringen kann oder diese reißen wird, bleibt abzuwarten. Die großformatige Ausgabe erscheint bei Cross Cult im Hardcover.
Freund oder Feind?
Der Mann uns schon vom Cover bekannte junge Mann heißt Lubin. Er ist chaotisch, witzig, albern und sportlich. Fast seine gesamte freie Zeit verbringt er mit Freunden, mit denen er für eine Zirkus-Akrobatik-Show übt. Man könnte ihn als den freundlichen Chaoten und sympathischen Kindskopf zusammenfassen. Schon innerhalb der ersten paar Seiten passiert der alles verändernde Unfall. Lubin fällt auf den Kopf, ist kurz benommen und verabschiedet sich am Abend nach dem Training von seinen Freunden. Er geht zu Bett und wacht erst zwei Tage später wieder auf. Es scheint ein Zufall zu sein, vielleicht stünde es auch im Zusammenhang mit dem Sturz. Als sich dann allerdings eine Regelmäßigkeit dieses Phänomens einstellt, stellt es Lubin vor ernst zu nehmende Probleme. Es ist nicht so, dass er einfach einen ganzen Tag schliefe. An den von ihm verpassten Tagen tritt ein anderer Lubin an die Oberfläche, ein ordentlicher, geplanter und ein überaus strebsamer Mann.
Die zwei Persönlichkeiten teilen sich den Körper, aber sonst überhaupt nichts. Diese Situation so gut wie es möglich scheint zu organisieren, nutzen die Zwei Videonachrichten, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Doch schnell müssen sie lernen, dass dieses Zusammenleben mehr Probleme als Chancen für sie bereit hält. Lubins Freundin trennt sich von ihm, er droht seine Rolle in der Zirkus-Show zu verlieren, weil seine Aussetzer unregelmäßiger werden und zu allem Überfluss werden die Episoden immer ausgedehnter. Lubin droht verdrängt zu werden.
Dafür hilft es nicht, dass Lubin immer wieder neben einer Frau aufwacht, die er nicht leiden kann und die er dafür verantwortlich macht, ihm seine vorige Freundin vergrault zu haben. Nichtsdestotrotz entsteht eine eigenartige und innige Freundschaft zwischen Tamara und Lubin. Sie wird seine treuste Begleiterin in seinem gesamten Leben. Ja Leben, denn diese Geschichte wird fortgesponnen bis zum Lebensende des Protagonisten. Wie ist das möglich auf nur 192 Seiten. Warum existiert diese alternative Persönlichkeit überhaupt und warum verliert Lubin zunehmend die Kontrolle? All das wird in spannender Art und Weise in dieser Graphic Novel erzählt.
Bewerte das Buch nicht nach seinem Cover
Der Blick auf die ersten Panels war kurz eine Enttäuschung. Die komplexe, atmosphärisch dichte und detailreiche Stilistik des Covers schien leider nicht repräsentativ für das gesamte Werk. Timothé le Boucher zeichnet poppige Figuren mit knalligen Farben, klaren Konturen und in starker Anlehnung an so manchen Anime. Die Figurendesigns und der auch durch die so typische Mimik unterstützte Humor schärfen diesen Eindruck. Andererseits bildet Boucher mit seinen Farben und der Art zu Kolorieren eine nicht sehr ergreifende Stimmung.
Leider stehen die sehr guten und detailreichen Illustrationen der Dynamik und spannenden Komplexität der Geschichte um einiges nach. Natürlich sind die gewählten Bildausschnitte und die gezeigten Perspektiven überaus kunstvoll. Doch schafft gerade die durchweg flache Kolorierung eine Distanz zum Geschehen. Nun kann man die Vermutung aufstellen, dass diese Art der Darstellung den Begriff der Virtualität in seiner eigentlichen Bedeutung sehr ernst nimmt. Darüber könnte man sich die Handlung und ein etwaiges Ende bereits vorweg nehmen. Jedoch würde dann der Kontrapunkt fehlen, zu dem sich diese Virtualität abgrenzen wolle.
So subjektiv unpassend oder flach die Illustration auf den ersten Blick auch scheinen mag, gelingt es trotzdem eine konsistente Geschichte zu erzählen, die einen mitnimmt.