In schweren Zeiten braucht es häufig jemanden, der einem hilft, einen neuen Weg einzuschlagen. „Die verlorenen Briefe“ von Jim Bishop ist eine zeichnerisch traumhafte Reise in eine Welt voller Fantasie und ehrlicher Empfindungen.
Der als Julien Bicheux geborene Künstler erklärt in dem Vorwort dieses Werks (wie auch in anderen Interviews) von seiner lebenslangen Identitätskrise. Teile davon lassen sich in dieser Geschichte wiederfinden.
2021 erschien diese Graphic Novel in französischer Erstausgabe und wurde nun vom Cross Cult Verlag in Deutschland veröffentlicht. Diese wunderbare Geschichte erscheint in einem großformatigen Hardcover, wie vom Ludwigsburger Verlag gekannt, auf kräftigen Seiten und in hoher Druckqualität.
Wenn die Zeit scheinbar still steht
Iode Sea ist ein junger, allein lebender Mann in einem Strandhaus. Seine Nachbarn sind Zaunpfähle mit Gesicht, ein paar immer hungrige Krabben und sein ständiger Begleiter ist ein Pelikan. Er lebt dort seit vielen Jahren zurückgezogen von der Welt, immer noch wartend auf einen Brief von seiner Mutter. Dieser sollte schon längst angekommen sein. Die Zeit scheint einfach still zu stehen. Doch selbst nach mehrfacher Nachfrage bei den Post-Clownfischen, die sich nie um einen Scherz zu schade sind, kann er keine Informationen erlangen. So beschließt er, in die Stadt zu fahren und es beim Postamt selbst zu versuchen.
Auf dem Weg in die Stadt sammelt er die geheimnisvolle Frangine ein. Kurz nach der Ankunft verschwindet sie spurlos, was dem naiven Iode Sorgen bereitet. Er entsendet seinen immer „Ja“-sagenden Pelikan und lässt sie aufspüren. Dass Frangine allerdings für einen Untergrundboss arbeitet und im Sumpf der Kriminalität gefangen ist, vermutet weder Iode nach die Leser:innen zu Anfang.
Ohne zu wissen, an wen Iode bei der Suche nach Hilfe gerät, spricht er den wohl unqualifiziertesten, wenn auch engagierten Polizisten Cysy an. Dieser ist ein Goldfisch in einem Goldfischglas, das wiederum in einer Art menschlicher Ganzkörperprothese den Kopf bildet. Trotz jedweden Talents für die Führung von investigativen Ermittlungen scheint Cysy etwas auf der Spur zu sein, denn er vermutet einen Maulwurf im Dezernat.
Frangine, die ihre eigene verstrickte und mehrschichtige Hintergrundgeschichte erhält, Cysy der talentlose und dennoch loyale Polizist und Iode, dessen einziger Wunsch es ist, diesen einen verlorenen Brief zu erhalten, machen sich über kurz oder lang auf in ihr größtes Abenteuer. Sie treffen auf einen Gangsterboss und seine schießwütigen Lakaien, fliegen waghalsige Manöver, ergründen den Vater-Sohn Konflikt Iodes und reden in vielen kleinen Dialogen über den Sinn von Wünschen, Träumen und dem Leben.
Gleich mehrere Wendungen zum Ende dieser Graphic Novel reißen einem fast die Füße weg. Es wird extrem emotional und fast schon schwer greifbar, weil es so abrupt losgeht und endet. Die immer wieder latent angedeuteten Enthüllungen schaffen es, einem einen Schlag in die Magengrube zu geben.
Ein traumhafte Welt
Die Welt, die sich Bishop erdachte, ist fantasievoll, nahezu magisch, wie man es sonst nur aus Ghibli-Filmen kennt. Seine Bilder sprechen eine kindliche, unschuldige Sprache, selbst wenn es mal heiß hergeht und Action das Geschehen bestimmt.
Es ist die Kombination aus Form und Farbe, die den visuellen Charme prägt. Sie ist weich, in Pastelltönen mit einer Prise Glanz eines gerade begonnen Tages am Meer. Einige der Designs erinnern an die Kreationen Hayao Miyazakis. Die Flugzeuge und die Prothesen der Meeresbewohner, wenn sie an Land herumlaufen, sind nur zwei Beispiele.
Da Jim Bishop als alleiniger Künstler für die Geschichte, die Zeichnungen und die Koloration gelistet ist, ergibt die konsistente Welt noch mehr Sinn. Sie wirkt von Anfang bis Ende durchdacht und erzeugt gezielt die adäquate Wirkung bei den Leser:innen. Einige visuelle Kniffe finden sich auf die Handlung bezogen auch hierin, was das Lesen und Betrachten umso erlebnisreicher gestaltet. Es nimmt einen mit in eine fabelhaft träumerische Welt, die man sich so gerne auch auf der großen Leinwand ansehen würde.
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