In diesen Zeiten, in denen viel Hetze gegen Flüchtlinge in der „Mitte der Gesellschaft“ salonfähig gemacht wird, ist ein solches Werk wie „Ein Sack voll Murmeln“ ein wichtiger Schritt in eine Richtung der Sensibilisierung zur eigenen europäischen Geschichte.
Die humanistische und gesellschaftliche Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sowie allen damit einhergehenden Aspekten aus Denunzierung, Verfolgung, Flucht, Hass, Rassismus und systematischer Tötung, wird der Vergleich zur heutigen Situation der Flüchtlinge keineswegs gerecht. Allerdings schafft diese bei bahoe books erschienene Graphic Novel die Perspektive zu erweitern, eine Erfahrung zu schaffen und sich möglicherweise mittels Empathie in eine solche Fluchtsituation hineinzuversetzen.
Das verhältnismäßig schmächtig wirkende Hardcover ist (auch wegen der ernsthaften Thematik und dichten Erzählung) ein überraschend längeres Leseerlebnis. Aus den Erinnerungen – niedergeschrieben in den Memoiren „Ein Sack voll Murmeln“ von 1973 – schildert Joseph Joffo seine Kindheit während des Vichy-Regimes in Frankreich. Die Adaption dieses Buches haben Kris und Vincent Bailly wundervoll umgesetzt und sie wurde sogar Eisner-Award prämiert.
Die Handlung
Vorweg ein paar Sätze aus diesem Comic, die mir persönlich sehr unter die Haut gingen:
„Ich habe mich verändert. Das Herz hat sich an die Gefahr und die Katastrophen gewöhnt. Vielleicht bin ich unfähig geworden, tiefen Kummer zu verspüren… Die Nazis haben mir noch nicht mein Leben genommen, aber sie stehlen mir meine Kindheit.“
Ein Sack voll Murmeln, Bahoe Books.
Joseph und Maurice sind gerade so 10 Jahre alt, als sie von ihren Eltern auf eine ungewisse Reise geschickt werden. Sie sollen raus aus Paris, raus aus dem jüdischen Viertel, weg von den Nazis und hinter die Demarkationslinie zu Verwandten in Sicherheit verschwinden. Joseph begreift nicht, was ein Jude von einem anderen Menschen unterscheidet, warum sie nun fliehen müssen und in welcher Gefahr die zwei Brüder sich fortan befinden werden. Ihre Reise beginnt und es scheint alles wie geplant zu funktionieren. Allerdings wird sich schon schnell herausstellen, dass die Brüder sich nicht allein auf die Hilfe anderer verlassen können. Sie nutzen ihren Scharfsinn und engagieren sich für andere, kommen in Kontakt mit weiteren Geflüchteten und machen so ihren Weg – immer wachsam, häufig mit viel Glück an einen Menschen mit Herz geraten zu sein – zur Verwandtschaft.
Es werden mehrere Jahre der unsteten Lebensumstände, der Flucht, des Ankommens und wieder Verschwindens gezeigt. Die Stationen sind vielfältig, die Geschichten und Menschen, denen sie begegnen, ebenso. In so mancher Situation steigt die Spannung um den Ausgang ins Unermessliche, da in einem Werk basierend auf den Schrecken des Nazi-Regimes kein noch so großer Schicksalsschlag unwahrscheinlich ist.
Die Geschichte wird durch die Augen des Joseph erzählt, in Off-Sprecher-Boxen aus einer Position lange nach den Ereignissen rekapituliert und bewertet. Dieser Tatsache geschuldet, verläuft diese Graphic Novel häufig ohne das zur Schau stellen von tödlicher Gewalt. Die erlebte und gezeigte psychische und seelische Gewalt ist jedoch eine der Kernmethoden, um das Szenario dieser Lebensgeschichte relevant und tatsächlich erlebbar zu machen.
Der Stil
Die Künstler Kris und Vincent Bailly sind dieser Thematik in aller Ernsthaftigkeit nah gekommen. Ihre Bilder sprechen eine Sprache von völliger Bezugnahme und ehrlicher Arbeit mit vollem Herzen.
Das gesamte Werk ist von liebevoll detaillierten, mit komplexen Kolorationen geschmückten und aufwendig gestalteten Aquarellmalereien geprägt. Die Farben sprechen eine klare Sprache und vermitteln in jeder neuen Szene ein unmittelbares Gefühl für die kommende Episode.
Die Zeichnungen per se wirken, als wären sie mit Finelinern oder eine Feder getuscht worden. Vielmehr erscheinen die Outlines sogar manchmal nur schematisch. Man sieht angedeutete Personen und Hintergründe, die jedoch keinesfalls als störende oder gar zu rudimentäre Elemente in der Bildkomposition wahrgenommen werden.
Dieser raue Stil, der wegen der teils groben Linienführung skizzenhaft scheint, strahlt allerdings dadurch viel Gefühl und Atmosphäre aus. In seiner Art, mit Farbe umzugehen, liegt die große Kraft dieser Graphic Novel.