
Während meines Besuchs meiner Mit-Autoren und Familienangehörigen in den USA stellten sich mir einige Fragen bezüglich der Thematik „Essengehen“. Ich war in einigen Momenten schockiert über die post-kapitalistische Konsummentalität, die in manchen Restaurants der Vereinigten Staaten gelebt wurde. Ein Beispiel:
Wir gingen als Familie in ein gut besuchtes Restaurant in Washington DC. Mitten in einem belebten Viertel genoßen wir wahrlich leckeres Essen. Dies hatte jedoch einen bitteren Beigeschmack, den ich schon einige Male vorher bei Restaurantbesuchen kosten durfte. Alles, wirklich alles, womit und worauf wir aßen war darauf ausgelegt weggeworfen zu werden. Einwegbesteck, Plastikbecher mit Strohhalmen, Pappschalen auf denen Papierbögen lagen, die unsere frittierten Vorspeisen präsentierten und Suppen in Pappschalen in verschiedenen Größen machten diesen Besuch zu nur einer Materialschlacht. Das Restaurant war sehr gut besucht und die Mülleimer füllten sich schnell.
Als das Essengehen seinen Anfang hatte
In einer Episode des Podcasts „Geschichten aus der Geschichte“ (große Empfehlung für alle Geschichtsenthusiasten) erzählen die Podcaster, wie das „Essengehen“ in Europa seinen Anfang nahm. Man mag meinen, dass die Geschichte des Restaurants schon seit der antike Bestandteil der europäischen Kultur ist. Den historischen Quellen zu Folge sei dies nicht der Fall. Erst nach der Französischen Revolution (1789) wurden die ersten urkundlich bestätigten Restaurants gegründet, eins der ältesten befindet sich übrigens in Hamburg.
Der Grund dafür scheint banal wie auch einleuchtend. Die durch Hinrichtung und Umsturz zerstörten Strukturen der Monarchie sorgten für ein Überangebot an exquisit und hochwertig arbeitenden Köchen in ganz Paris. Denn natürlich gab es nirgendwo solch hohe Ansprüche an das Essen, wie am französischen Königshaus unter Ludwig XVI. Also beschlossen die nun arbeitslosen Köche ihre Fähigkeiten in eigenen Läden für das sich festigende Bürgertum der größeren Städte anzubieten. Das Restaurant, wie wir es heute noch kennen, war geboren.
Die Moderne und ihre Veränderungen
Auf dem Weg durch die Industrialisierung, die zunehmende Globalisierung, die zwei Weltkriege und Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit veränderte sich die kulinarische Landschaft massiv. Zutaten gelangten auf den Weltmarkt von denen niemand je gehört hatte, Zubereitungsformen und Techniken kursierten, die wiederum zu neuen Kreationen führten. Man vermutet beispielsweise, dass ohne die kulinarischen Techniken des Kochens einer klaren Brühe aus Knochen durch die französischen Besatzer die heute sehr beliebte vietnamesische Phở nicht entstanden wäre.
In Ländern, in denen durch die eigene Kolonialgeschichte schon viele Jahrhunderte kultureller Austausch stattfand, waren die Auswirkungen weniger abrupt spürbar. Im Falle Deutschlands, das nach dem zweiten Weltkrieg sehr viele Hilfsarbeiter aus dem Süden und Südosten Europas angeworben hatte, war der Kontrast zum vorigen fast zwei Jahrzehnte gelebten Ultranationalismus eklatant. Lange Zeit war die Küche in Deutschland durch zentral- und westeuropäische Einflüsse geprägt. In den sich öffnenden 50er Jahren des 20. Jahrhunderts kamen nun die ersten italienischen, griechischen und türkischen Restaurants auf. Eine kulinarische Revolution begann. Ohne diesen Kulturaustausch und die Einflüsse der Gast- und Leiharbeiter wäre die deutsche Gastronomielandschaft heute vielleicht weniger divers. Zumindest gehört es dieser Tage dazu und wird als gegebene Realität im Alltag vieler Menschen als Selbstverständlich betrachtet.
Die Welt rückt näher
Das Interesse an anderen Küchen ebbt glücklicherweise nicht ab. Noch immer werden neue kulinarische Regionen mit offenen Armen und Gaumen begrüßt. Vor allem in großen Ballungsgebieten wie Hamburg, Berlin und Köln findet sich allein in Deutschland ein immenses Angebot. Dort kann man ganze Weltreisen unternehmen, nur mit der Zunge und einem feinem Geruchssinn.
Allerdings hört man auch gelegentlich Kritik an der Diversität und der schrittweisen Verdrängung von „deutscher Küche“. Jedoch sei auch gesagt, dass bei dem Begriff „deutsche Küche“ häufig bayerische Kost oder eben Kartoffel und „Wiener Schnitzel“ genannt wird. Man möge es sich auf der Zunge zergehen lassen. Auch ist die Argumentation, dieses rein konservativen Gedankens die deutschen Restaurants künstlich zu erhalten, keine besonders tragbare. Es gilt schließlich immer noch das Gesetz des Geschmacks in der Gastronomie. Schmeckt das Essen nicht, geht keiner hin. Da kann es noch so traditionell oder heimatlich sein, Geschmäcker und Vorlieben verändern sich.
Der Großteil der Gäste, die zwei bis dreimal im Monat Restaurants in Deutschland besuchen ist zwischen 18 und 29 Jahren alt. Sie unterstützen somit die 2020 rund 44 Milliarden Euro (heftige Einbußen wegen der Corona-Pandemie) erwirtschaftende Branche. Die über 70.000 gemeldeten Restaurants bieten eine große kulinarische Bandbreite. Die Ausgewogenheit, Ökologie und das Tierwohl werden mehr und mehr zu wichtigen Faktoren für die Besucher. Dies lässt sich aus der steigenden Tendenz veganer und vegetarischer Restauranteröffnungen schlussfolgern.
Wie wichtig ist das Essen?
Im Laufe des Besuchs an der Ostküste der USA kam also der Gedanke daran, wie häufig die verschiedenen Kulturen aushäusig essen gingen. Es schien, auf einer rein anekdotischen Beweisführung fußend, übermäßig oft, dass Menschen in Nordamerika sich ihr Essen liefern ließen oder es selber mit dem Auto am Drive-In besorgten. Ein Blick in eine aufschlussreiche Umfrage zur Häufigkeit des Essen außerhalbs lässt überraschende Schlüsse zu. Unerwartet häufig ginge man wohl in Spanien essen, gerundet 4 Mal in der Woche. Direkt dahinter läge Kanada und die USA mit ungefähr 3-4 Mal pro Woche, an denen nicht zu Hause gegessen würde. Deutschland befindet sich weit abgeschlagen mit durchschnittlich einem Mal in der Woche außerhalb speisen auf den letzten Plätzen dieser Umfrage.

Nimmt man diese für sich nicht sehr aussagekräftige Umfrage in Kombination mit einer weiteren Statistik, so formt sich ein umfangreicheres Bild zur Kultur des Essens und Essengehens. Laut einer OECD-Umfrage verbringen die Menschen in Deutschland durchschnittlich anderthalb Stunden am Tag damit zu Essen und zu Trinken. In der Regel auf drei Mahlzeiten aufgeteilt, das heiße ungefähr eine halbe Stunde pro Tagesabschnitt. Um den nun schon länger vorbereiten Vergleich zu den USA zu schärfen wird die Zahl 1 Stunde und 2 Minuten einleuchten. So viel verbringt der durchschnittliche US-Amerikaner mit der Nahrungs- und Getränkezufuhr, nicht verwunderlich also, dass es so schien, als würde Essen gehen inflationär schnell behandelt werden. Die absoluten Spitzenreiter, was die tägliche Zuwendung zur Ernährung betrifft sind übrigens Frankreich und Italien mit knapp über 2 Stunden am Tag.
Was Esskultur mit uns macht
Nicht nur ist das schnelle Essen, schnell produziert und konsumiert, nicht so nährend wie selbst gekochte Speisen. Ebenso wenig Bezug zum Lebensmittel und dem Genuss der Sinne könnte man den Esskulturen unterstellen. Diese Aussagen sind wahrlich große Vermutungen und unter wissenschaftlicher Prüfung vielleicht nicht haltbar. Es besteht jedoch ein Unterschied, physisch, psychisch und sozial wie man Essen zu sich nimmt.

So behaupten manche Wissenschaftler, dass Speisen in der Gemeinschaft zu mehr Sättigung und Freude führe, als in Einsamkeit. Hinzu komm, dass man eine gemeinsame Mahlzeit mit Kindern, vor allem bewusst und aktiv gestaltet, einen erheblichen Einfluss auf die psychosoziale Gesundheit der Sprösslinge hat. Im gleichen Atemzug wird aber auch darauf hingewiesen, dass gute Gesellschaft zu übermäßigem Essen führen kann. Leuchtet ein, wenn man gemeinsame Koch- oder Küchenabende mit den liebsten Freunden, WG-Mitbewohnern oder einer sehr kulinarischen Party denkt. Alles Situationen in denen man sich grundlegend sehr wohlfühlen kann.
Welche Schlüsse man aus diesen Statistiken ziehen mag, obliegt jedem bewusst lebenden Menschen selbst überlassen. Abschließend gilt nur zu sagen, dass aktuelle Zahlen (laut 15 minütiger Selbstauskunft der 34 Länder einbeziehenden Umfrage) zeigen wie gering die Zahl der mental erkrankten Menschen in Spanien, Venezuela und auch Frankreich sind. Die 10 schlechtesten Werte dieser Umfrage zu psychischer Gesundheit liegen also der Selbsteinschätzung nach nahezu alle in englischsprachigen Ländern dieser Welt.
Esst also mehr, bewusster und vielfältiger. Am besten in einer aktiven sozialen Umgebung und auch gern mal etwas länger, als man es gewohnt ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen, Essen und Trinken schafft Gemeinschaft und verbindet Kulturen. Warum also nicht zwei schöne Dinge miteinander verbinden?