Habibi

16. März 2023
3 Minuten Lesezeit
Copyright: Reprodukt

Wundervoll gestaltet und für eine Graphic-Novel ungewöhnlich dick steht dieses Werk im Regal eines großen Berliner Kaufhauses. Der ornamentierte Buchrücken wird geziert vom geschwungenen, goldenen und klar der arabischen Schrift entlehnten Titel „Habibi“. Ein ungleiches Paar, Rücken an Rücken stehend, schaut in entgegengesetzte Richtungen und zeigt so subtil eine gewisse Spannung ohne viel über die Figuren zu wissen.

Aus dem Regal herausgenommen fällt eines sofort auf: es ist eine wirklich massive Lektüre, die mit einem Preis von knapp 40€ auf den ersten Blick teuer wirkt. Soll ich sie mir kaufen oder nicht?

Dass der Autor und Zeichner Craig Thompson (Blankets) zu den renommiertesten Künstlern der Szene gehört, war mir bereits vorher klar. Ich hatte dann doch das Glück, dieses Werk als Rezensionsexemplar zu erhalten, kann es aber jedem wirklich ans Herz legen, sich dies zu besorgen. Es ist in so vielen Aspekten lehrreich, herzerwärmend und einfach schön. „Habibi“ ist ein modernes Märchen zwischen Orientalismus und dem Schicksal einer Liebe. Das 672 Seiten umfassende Hardcover erscheint im schwarz-weißen Druck beim Berliner Verlag Reprodukt.

Leidensgenossen und Liebesgefährten

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Die Geschichte beginnt mit der Perspektive der weiblichen Protagonistin. Dodola entstammt armen Verhältnissen und wird an einen Gelehrten als Ehefrau verkauft. Dort muss sie schon als Kind ihrem Mann sexuelle Dienste erweisen. Eines hat diese Ehe allerdings für sich. Dodola lernt immens viel über ihre Schrift, ihre Kultur, ihre Religion und die Geschichten, die damit einhergehen. Als eines Tages Banditen den Gelehrten überfallen, gerät Dodola in Gefangenschaft und soll auf einem Sklavenmarkt verkauft werden. Ein von den Eltern getrenntes Kleinkind steht ebenso zum Verkauf, der männliche Protagonist Zam. Dodola schnappt sich diesen und ihnen gelingt die Flucht.

Mitten in der Wüste gestrandet entdecken sie ein Holzboot, das wie für sie gemacht scheint. Dort werden sie die nächsten Jahre verbringen und wie Bruder und Schwester einen Alltag bestreiten. Zam beweist Fähigkeiten beim ausfindig machen von Wasser und Dodola nutzt ihren Körper, um mit vorbeiziehenden Karawanen um Lebensmittel und andere Gegenstände „zu handeln“. Das Leben der Zwei scheint abseits der harschen und unmenschlichen Lebensumstände recht idyllisch. Dodola bringt dem kleinen Zam, sie nennt ihn meist Habibi, das Lesen und Schreiben bei. Darüber erfahren wir als Leser eine Fülle über die Entstehung, die Symbolik, die Mystik und die Sagen der „arabischen Kultur“. Es ist ein fiktives Land, in dem sie sich aufhalten und man kann somit nicht klar zugeordnen, worauf sich der Autor Thompson schlussendlich bezieht.

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Natürlich bleibt es nicht für immer so. Eines Tages werden Dodola und Zam getrennt. Sie wird in den Palast verschleppt und soll dort als Zofe und sogar Haremsfrau leben. Zams Schicksal führt ihn über hunderte Umwege durch Orden, Städte und Paläste wieder zu Dodola zurück. Sie beide sind keine Kinder mehr, ihre Zuneigung und Liebe füreinander ist jedoch ungebrochen. Es ist eine herzzerreissende, schmerzreiche und dennoch unglaublich schöne Geschichte.

Am Anfang war die Linie

Der Stil von Habibi, wie auch anderer Arbeiten Craig Thompsons, ausgezeichneten Graphic-Novel lässt sich als schlicht beschreiben. Andererseits widmet sich gerade dieses Werk so dezidiert der Schrift, dem Ornament und der Linie als solches, dass das Wort „reduziert“ fast euphemistisch scheint. Thompson setzt den schwarz-weiße Look seiner Bilder in klaren Ebenen voneinander ab. Schattierungen, schwarze Flächen, graue Flächen, Schraffuren und strukturgebende kleine Linien sind alle wohl gewählt und ergeben so ein homogenes und absolut harmonisches Bild. Was den Charme dieses Werks so groß macht, ist die kunstvolle Einarbeitung der Lehren. Seien es Geschichten des Koran, wie die Erzählung um Abraham und seinen Söhnen, sei es das magische Viereck, wonach jede Zahl einem arabischen Buchstaben zuzuordnen sei oder die Mystik und Symbolik hinter alldem. Alles scheint fast natürlich, wie ein Fluss aus Erzählung ineinander überzugehen.

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Die Geschichte überspannt mehrere Jahrzehnte, die Figuren reifen also. Es gelingt dem Künstler die Charakteristika der Hauptfiguren zu behalten, sie dennoch erwachsen werden zu lassen und mehr. Sie verändern sich stark, vom Leben gezeichnet, von Entscheidungen verfolgt. All das fliesst in die Entwicklung einer Figur mit ein. Thompson versteht sein Handwerk so großartig, dass in keinem Moment ein Gefühl fehlender Authentizität, gar ein Bruch mit der Atmosphäre oder Nähe zu den Figuren entstehen könnte.

Innerhalb dieser knapp 700 Seiten wird man häufig überrascht. Nicht nur ist der Inhalt übervoll an Kulturhistorie, nein auch die Form ist umwerfend gestaltet. Diesbezüglich hervorzuheben ist das Handlettering der deutschen Ausgabe durch Michael Hau und die treffenden Übersetzungen von Stefan Prehn.

Schöner als jedes Märchen
„Habibi“ ist traumhaft schön und wundervoll traurig. Eine Geschichte, die einem klassischen Märchen den Rang abläuft. Craig Thompsons Arbeit zeigt, was das Medium Graphic-Novel kann und wie viel Gefühl man als Leser für Figuren entwickeln kann, obwohl sie „nur“ schwarz-weiß sind. Die Reduzierung und der minimalistische Ansatz der Zeichnungen wird in wenigen Stellen gekonnt gebrochen. Vor allem das Layout und die Fülle an Ornamenten und Kulturreferenzen beleben eine Vielzahl der Seiten. Möchte man sich einmal verzaubern lassen, ein wahrlich lesenswertes und lang nachwirkendes Werk lesen, dann bitte doch dieses!
Pro
Großartige Bilder
Fantastische Figuren
unvorhersehbare Entwicklungen
Kulturhistorische Einführungen in die islamische Welt
Kontra
Gar Nichts
10

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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