Karmen

4. Juli 2023
3 Minuten Lesezeit

DISCLAIMER: Der folgende Text kann verstörende Inhalte beinhalten. Von der Thematik „Suizid“ betroffene Angehörige und darüber nachdenkenden Personen ist geraten professionelle Hilfe aufzusuchen, sich einer Therapie zu benützen oder in akuten Situationen die Telefonseelsorge (0800-1110111) anzurufen.

Nicht erst seit “It’s A Wonderful Life” oder “Christmas Caroll” hat sich Literatur und Film mit dem Tod in kreativer Form auseinandergesetzt. In dieser über alle Maßen eindrucksvollen Graphic-Novel des Künstler Guillem March werden wir auf eine Reise der Reflexionen mitgenommen. Wie der Künstler im Vorwort des bei Cross Cult veröffentlichten Werks schildert, habe der Schaffensprozess ganze 5 Jahre gedauert. Das Ergebnis sind großartige Bilder Mallorcas Hauptstadt Palma und eine interessante Geschichte, die ans Herz geht.

Hoffnungslos, verliebt und verloren

Wäre das Leben in den 20ern doch nicht immer so verwirrend und furchtbar anstrengend. Zwischen der Findung einer eigenen Identität, der großen Liebe und emotionalen Verletzungen ist das Spektrum der Gefühle und Ereignisse riesig. Catalina erleidet all das und ist gefangen in einer egozentrischen Wahrnehmung ihrer Umwelt. Ihre große Liebe und bester Freund, der jedoch ein Frauenheld ist, hat nun anscheinend etwas mit ihrer Mitbewohnerin angefangen. Über diese Situation zutiefst gekränkt, diesen letzten das Fass zum Überlaufen bringenden Tropfen nicht verkraftend, nimmt sie sich das Leben.

Copyright: Cross Cult

Selbstverständlich und keines Wegs scheu tritt nun Karmen auf. Ihre Präsenz ist eigenartig, denn ihr Körper ist eine schwarze Hülle, in der man nur das Skelett sehen kann. Wie sich herausstellen soll ist Karmen die Begleiterin auf dem Weg zum Jenseits, obwohl dies so nie direkt benannt wird. Catalina ist schockiert und verwirrt als Karmen ihr die Schnitte an den Handgelenken mit rosa Schleifchen bedeckt. Nach einigen kurzen, die Stimmung lockernden und überraschend witzigen Dialogzeilen beginnt eine wundersame Reise durch Palma. Karmen macht Catalina deutlich, dass sie nun alle Freiheiten ihrer Fantasie ausleben kann, bevor sie ins Reich der Toten übergehen muss. Dies nimmt Catalina anfangs zögerlich, später mit größter Freude, war. Sie ist dabei komplett nackt und ist sich ihres projizierten Körpers mehr als bewusst.

Das zerbrechliche Glück

Während Catalina nun also durch eine atemberaubend gezeichnete Innenstadt Mallorcas Hauptstadt fliegt, läuft und durch die Luft schwimmt, wird sie von Karmen immer wieder ins Gespräch gebracht. Sie reden über Catalinas Vergangenheit, ihre Eltern, ihre Beziehung zu ihrem besten Freund, ihre Ambitionen im Leben. Wir werden auch ganz beiläufig auf andere Sterbende und deren Schicksale aufmerksam gemacht, die andere Mechanismen der Bewältigung ihrer Situation zeigen.

Da Catalinas Zustand nur ein Zwischenstatus zum Ende ihrer Existenz sein soll und Karmen schon zu viel Zeit darin verbringt, wird eine Kollegin Karmens losgeschickt, um diesen Fehler zu korrigieren. Denn wie es scheint arbeitet die Frau im Skelett-Dress in einer Art Agentur. Außerdem gilt sie als diejenige Mitarbeiterin, die schon häufiger ihrem Job nicht nachkam und Leute vom Haken gelassen hätte, sodass diese eine zweite Chance bekamen. Wird Catalina diese Chance erhalten? Was denkt Catalina nun nachdem es zu spät ist über ihre Entscheidung? Wie beurteilt sie und wir als Leser den Wert des Lebens und die Tragödien und den Schmerz, die wir währenddessen erleiden müssen (dürfen)?

Großartig und wunderschön

Copyright: Cross Cult

Der Stil von Guillem March ist schlichtweg wunderschön anzusehen. Mit seinen klaren Linien, einer schnörkellosen Ästhetik, gelingt es einen Look zu kreieren, der in gewisser Weise der franco-belgischen „Ligne claire“ folgt. Präzise Outlines, reduzierte und unaufgeregte Schattierungen, die fast immer mit Abstufungen von Farben erzielt werden, machen seine Bilder zu etwas ganz Besonderem. Da die Atmosphäre zu einem großem Teil aus der unglaublich detaillierten Szenerie entsteht, brauchen die Figuren nicht sehr viel hinzutun, um zu begeistern. Nichtsdestotrotz sprühen die Charaktere geradezu vor einnehmenden Emotionen, die zweifelsohne überzeugend und ergreifend sein können.

Wie bereits angedeutet wirkt dieses Werk gerade wegen der Darstellung der mallorquinischen Hauptstadt zauberhaft. Im Anhang dieses Werks gibt uns der Künstler einen Einblick in den Schaffensprozess. Vor Ort gezeichnete Skizzen werden darin direkt mit den fertigen Panels gegenüber gestellt. Außerdem erhalten wir einen Eindruck in die Konzeption einer Doppelseite, von der Skizze bis zur getuschten Fertigung. Diese, wie auch einige andere Seiten, demonstrieren die Magie des Guillem March und seinen Bildern. Sie sind teilweise aufeinander aufbauende und fragmentierte Bewegungen, die in einer Umgebung stattfinden und nur von einzelnen Panelrahmen oder gut gesetzten Sprechblasen voneinander getrennt und mit Einwürfen gebrochen werden. Diese Methode nennt sich „De Luca Effekt“ und wird mittlerweile häufig verwendet um dem Auge eine fließende Bewegung zu simulieren. In diesem werk nutzt March verschiedene Formen dieses Effekts, mal in Panels segmentiert und hervorgehoben, mal auf einer Seite ohne Brechungen.

Melancholisch schön
„Karmen“ ist einer der größten Überraschungen des Jahres 2022 und das zurecht. Guillem March erzählt auf einfühlsame Weise eine Geschichte über eine in Trauer und Projektionen und Depression versunkene junge Frau, wie sie nur selten zu finden ist. Wenig pathetisches findet sich in dieser Geschichte, auch wenn man nicht von der Hand weisen kann, dass sich so manche Plattitüde oder Dialogzeile wie ein Persönlichkeitscoaching lesen lassen kann. Es ist dennoch überaus emotional, aufwühlend, witzig und dem Leben zugewandt, auf seine eigene Art und Weise. Diese Geschichte bleibt im Kopf und geht ans Herz.
Pro
Umwerfende Zeichnungen
großartige Dialoge
spannende Fragen über das Leben und Sterben
Kontra
10

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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