Anfang der 2000er standen die X-Men an einem Scheidepunkt. Der erste kommerziell erfolgreiche Film erschien und wandelte das Interesse an der Welt der Mutanten schlagartig. Die Star-Besetzung und die bis dahin auf der Leinwand ungesehenen Fähigkeiten schafften großen Eindruck, auch unter nicht Comic-Leser:innen. Diese Welle der Begeisterung nutzend, startete eine neue Ära der X-Men in den Comics. Mit dem bereits etablierten Autor Grant Morrison und dem Zeichner Frank Quitely präsentierten sich die Mutanten um Professor Charles Xavier in neuem Gewand und mit neuen Themen. Dieses „Marvel Must-Have“ markiert den Start dieser Epoche eines neuen Selbstverständnisses.
„X-Men – Bedrohte Spezies“ erschien beim Panini Verlag im Hardcover und bietet, wie gewohnt für diese Reihe, eine reichliche Menge Zusatzinformationen und Publikationskontext.
Gedankenkontrolle, Genozid und Genosha
Der Handlungsbogen startet mit der Einführung einer ominösen Mentalistin. Sie hat den Neffen Colonel Trasks entführt und macht ihn mit seiner ihm vorgesehenen Aufgabe vertraut. Obwohl es seit einiger Zeit keine ernstzunehmenden Zwischenfälle mit Sentinels, den Mutanten-Killer-Robotern, gegeben hat, brodelt es ungesehen von der Öffentlichkeit. Besagte Mentalistin Cassandra Nova ist überzeugte Anhängerin des biologischen Determinismus, der ihrer Überzeugung nach als Rechtfertigung ausreicht, die Spezies Mutant auszulöschen. Mithilfe der übriggebliebenen Sentinel-Technologie will sie die Mutanten, die auf der Insel Genosha ihre eigene Zivilisation gründeten, auslöschen.
Das Team um Professor X wähnt sich in Sicherheit und schickt nur Wolverine und Cyclops in den Dschungel, dem Ort, an dem sich die Sentinel-Fabrik befindet. Sie scheitern und die Invasion Genoshas kann nicht verhindert werden. Wie auch in den Filmen üblich, gelang es der Schurkin, den übermächtigen Professor Charles Xavier zu übermannen und ihn kurzerhand kaltzustellen. Im Massaker von Genosha wird Emma Frost zum ersten Mal in ihrer kristallinen Form zu sehen sein. Von da an wird sie weiterhin als wichtige Figur der Mutanten etabliert.
Das Übel nimmt seinen Lauf und ungefähr 16 Millionen Mutanten lassen ihr Leben. Dieses Massaker wird in das kollektive Bewusstsein folgender Generationen von Comic-Leser:innen und Mutanten zugleich eingehen. Mittlerweile (unter Jonathan Hickman) hat sich ein Quasi-Staat auf der Insel Krakoa gebildet, der der Idee Genoshas ähnelt.
Nach dem Genosha-Arc wird die Story in andere Gefilde weitergeführt. Im Weiteren befasst sich Morrison mit genetischer Veränderung, Modifikation des menschlichen Körpers und Machtgewinn. Einem anscheinend größenwahnsinnigen Wissenschaftler und Entrepreneur ist es gelungen, Teile der Mutanten-DNA und ihre Fähigkeiten in Menschen zu verpflanzen. Die daraus entstandenen „unnatürlichen“ Mutanten sind seine kultusartigen Anhänger und Verteidigungslinie. Dieser zweite Teil behandelt Themen, die politischen Missbrauch, Selbstoptimierung und auch Schönheitsideale in der Welt der Mutanten betreffen. Zudem wird die Existenz der X-Men unter Prof. X zum ersten Mal der Öffentlichkeit bekannt. Aber warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Ist Charles Xavier vielleicht doch nicht der, für den man ihn hielt?
Ein neuer Stil für neue Themen
Es ist auffällig, wie anders der gesamte Look dieses Comics ist. Aus einer Ära der bunten Kostüme und knalligen Farben begibt sich Frank Quitely in eine grundlegend neue Richtung. Die Designs der Figuren sind ungewohnt und anders, die Kostüme ähneln ganz bewusst gewählt einer Biker-Crew. Die Illustrationen der Technologie scheinen außerdem detailreicher und experimenteller in ihren Formen. Allein das von Emma Frost präsentierte Outfit, welches ein X darstellt, das sich durch nackte Haut und viel Brust auszeichnet, war bis dahin nicht denkbar.
Die Designs der Figuren sind ungleich vieler Stile, die man sonst in Superheldenkontexten zu sehen bekommt. Hank McCoy alias The Beast ist ein wahrliches Biest mit breitesten Schultern, massivem Kiefer und Pranken, die einem das Fürchten lehren. Cyclops hingegen erscheint nun mit markant „männlichem“ Kinn, langem Gesicht und stets Lederjacke tragendem Charme, der wenig mit irgendeiner vorigen Version zu tun hat.
Ein kleines Highlight dieses Marvel Must-Haves ist ein Kapitel, das sich komplett im Querformat lesen lässt. Die Nutzung der Seite ist merklich anders und ergibt ein ganz anderes Leseerlebnis, was die Frage aufwirft, warum nicht mehr solcher Ausgaben erscheinen.
Das letzte Kapitel, gezeichnet von Francis Leinil Yu, bricht dann noch mal komplett mit den Neuerungen der beginnenden und die neue Welt der Mutanten etablierenden Stilistik.
Sie erinnert unglaublich stark an einige Ausgaben aus Neil Gaimans „Sandman“.
Eine groß angelegte detailreiche Atmosphäre wird von expressiven Figuren mit Leben gefüllt und durch Schattierung und Schraffuren zu etwas Düsterem. Passend, dass Wolverine und Jean Grey darin einige weitreichende Erkenntnisse zu gehegten Wünschen und Träumen über ihre Beziehung sammeln.
Der Cliffhanger dieser Ausgabe ist tückisch und knüpft an einen Status quo der Filme an.
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