Die von Panini gestartete Reihe der „Marvel – Must-Have“ zeichnet sich durch ausgewählte Kurration der wohl denkwürdigsten Marvel-Stories aus. In dieser Hardcover-Ausgabe der „Must-Have: X-Men – Zukunft ist Vergangenheit“ dürfen wir auf das Original-Material zum X-Men-Film mit selbigem Titel werfen. Der für viele X-Men-Fans der frühen Ära prägendste Autor Chris Claremont und Mitautor und Zeichner John Byrne haben diese Mutanten-Meilenstein bereits im Jahr 1963 entworfen. Dem Stil der frühen 60er Jahre folgend, muss man so manches Panel dabei einfach akzeptieren lernen. die Gesetze des Marvel-Kosmos wichtige Geschichte erzählt.
Eine Ende ist immer ein Anfang
Diese Ausgabe beginnt mit der Reflexion des Anführers der Einsatzgruppe X-Men Cyclops alias Scott Summers über den Tod seiner Geliebten. Jean Grey wurde kurz zuvor von der Phönix-Kraft besessen, was ultimativ dazu führte, dass sie außer Kontrolle geriet und die Welt bedrohte. Sie musste getötet werden, was für die damalige Comic-Welt ein Schock war. Eine der wichtigsten und meist geschätzten Figuren musste sterben. So trauert Scott Summers, rekapituliert seine Zeit mit den X-Men und bietet damit den idealen Einstieg in diese Ausgabe. Eine derart ausführliche und atmosphärische Einführung findet sich selten inhärent des Werks, höchstens durch die, das vorangegangene Geschehen umreißenden, redaktionellen Texte. Ein Novum dieser Epoche sind einige Figuren, wie die für den Verlauf des Mutanten-Kosmos extrem relevante Kitty Pryde. Wir beobachten Professor X wie er sie als Kind, unerfahren und naiv, für dessen Einsatzgruppe rekrutiert.
Von da an erzählt sich die Geschichte sehr stringent. Ein Zeitsprung ins Jahr 2013 (ein Jahr später erschien der gleichnamige Film) zeigt eine totalitäre Dystopie in der Genozid und politische Verfolgung das Mittel der Macht sind. Die übermächtigen Killermaschinen Sentinels verfolgen und internieren alle noch übrigen Mutanten und Unterstützer der Homo Superior. Der allergrößte Teil aller einst die Welt vor dem Untergang rettenden Helden der, seien es Mutanten und sogar andere Marvel-Helden starben während der wiederholten „Säuberungen“. Mit Hilfe eines technischen Gadgets senden die letzten Überlebenden nun den Geist Kitty Prydes in ihren Körper der 1980er. Sie wollen so das alles auslösende Event, den Tod eines Senators, verhindern. Daraufhin begann nämlich der Bau der Sentinels als Abwehr der Mutanten und das Ende der Freiheit.
Drei Handlungsstränge in einer Kurzgeschichte
Im Stile der frühen sechziger Jahre erzählt sich diese Geschichte weniger aufregend, als man sie heute inszeniert hätte. Die eigentliche Action und die vorausgehende Spannung dieses Zeitreise-Thrillers entsteht innerhalb weniger Panels. Jedoch sind zumindest die Dialoge nicht ganz so schwer zu lesen, wie es so manche andere Comics dieser Epoche immer wieder belegen. Dass neben der eigentlichen Ereignisse rund um Kitty Pride im Handlungsstrang 1980 noch ein Aufstand gegen die Sentinels im Jahr 2013 stattfindet, um so den Schutz von Kittys Geist zu gewährleisten, macht die Geschehnisse ein wenig spannender.
Ziemlich deplatziert hingegen wirkt der Handlungsbogen rund um Wolverine, der versucht in Kanada mit alten Verbündeten der Alpha-Flight einige Morde im kanadischen Wald zu klären. Dort treffen sie auf Wendigo, eine Art Sasquatch oder Yeti, eine mystische Figur die Besitz vom Menschen ergreift und triebhafte Morde zu verantworten hat. In dieser Handlung erfahren wir nicht sehr viel neues, außer mehrfach auf Wolverines Adamantium-Klingen hingewiesen zu werden. Außerdem schreibt Claremont ein paar sehr interessante, charakterbildende Monologe zu Kurt Wagner alias Nightcrawler und Wolverine in diese Handlung hinein.
Als allerletzte, seltsam unpassende, Handlung erleben wir Kitty Pryde allein im X-Mansion. Es ist quasi „Kevin allein zu Haus“ nur mit Aliens und viel mehr gewaltvoller Zerstörung. Abgesehen davon kann dieses letzte Kapitel nicht viel zur titelgebenden Handlung beifügen. Es versteht sich mehr als eine weiterführende Ausbildung der neusten X-Frau Pryde.
Stilistisch Old School
Klar ist unsere Sehgewohnheit, das Empfinden von Dynamik im Comic, die Vorliebe für komplexe Kolorierung und Dimensionalität der Bilder etwas, das man nicht von Comics vor 60 Jahren erwarten kann. Es wäre ungerecht jene Panels in ihrer Ausführung mit moderner Comic-Kunst zu vergleichen. Festzuhalten sind aber einige Merkmale, die immer wieder in Comics dieser Ära auftreten. Da wären beispielsweise die einfarbigen, teils unpassend, kolorierten Hintergründe zu manchem Dialog. In Pastelltönen und gänzlich ohne Farbgradienten gehüllt sieht man dann des Öfteren eine Figur oder gar eine ganze Gruppe, ihrem Gespräch nachgehen. Man gewöhnt sich zügig daran, denn die Ausarbeitung der Expressionen und Körpersprache ist in den allermeisten Panels mehr als einnehmend und es bleibt keine Zeit sich auf einfarbige Hintergründe zu konzentrieren.
Man sollte aber auch anfügen dürfen, dass die Bedrohlichkeit und die angsteinflössende Stimmung in der 2013er Dystopie wegen der teilweise eindimensionalen Zeichnungen nicht ganz so überzeugen kann. Diese Ausgabe, dieses historische Werk der Marvel-Comics, muss man im Kontext der Zeit versuchen zu lesen. Sich der Eigenarten zu nähern ist nicht immer leicht, aber wenn man einen Klassiker empfehlen sollte, dann gehört diese Ausgabe wohl dringend dazu.