Tüti

10. Januar 2022
2 Minuten Lesezeit

Es war einer dieser Tage, wenn es kurz davor ist zu schneien und so viel Spannung in der Luft liegt, dass du es fast hören kannst. Und da war diese Tüte, sie hat mit mir getanzt, wie ein kleines Kind, das darum bettelt, dass ich mit ihm spiele, für eine Viertelstunde. Das war der Tag an dem ich verstanden habe, dass es ein ganzes Leben hinter den Dingen gibt und eine unglaubliche gütige Kraft, die mir sagen wollte, dass es keinen Grund gibt, sich zu fürchten, niemals. Manchmal liegt so viel Schönheit in der Welt, dass ich es kaum aushalte und mein Herz davon erdrückt wird.“

American Beauty, 1999.

Dieses Zitat ist zweifelsohne das bekannteste, das jemals über eine Plastiktüte formuliert wurde. Die Szene „Tanz der Plastiktüte im Winde“ hat im Film American Beauty eine Zäsur eingeleitet. Doch was passiert, wenn man dieser Tüte auf einmal noch mehr Bedeutung zuschreibt als die reine Repräsentation von Schönheit? Was ist, wenn die Tüte Akteur wird und selber beginnt, die Geschicke der Menschen scheinbar zu beeinflussen? Diese Prämisse nahm sich Dominik Wendland zum Anlass, eine ungewöhnliche Geschichte zu erschaffen. Daraus entstand „Tüti“, erschienen als Softcover mit Spotlack auf dem Cover beim Jaja-Verlag aus Berlin.

Eine Geschichte in drei Akten

Tütis Einführung weist bereits auf Ereignisse der Zukunft hin. Eine unschuldige, gerade erfolgreich gesättigte Möwe verfängt sich in Tüti und stürzt tödlich zu Boden. Unbescholten fliegt der allzeit stille Protagonist wieder hinfort, immer mit dem Wind. Prompt gerät er in eine Besprechung einer Untergrundorganisation, die große Sorge davor hat aufzufliegen. Kurz darauf fliegt Tüti wieder zum Fenster hinaus, um sich mit ihrem Liebhaber zu treffen. Sie „schlafen“ miteinander. In der anstehenden Nacht scheint sich die Befürchtung der Organisation zu bestätigen, denn sie werden bedroht. Allerdings kommt Tüti in letzter Sekunde zur Rettung. Sie scheut vor nichts zurück.

Im zweiten Akt dieser Graphic Novel zeigt Dominik Wendland die gesellschaftlichen Dynamiken, die besagte Organisation versucht zu stürzen. Scheinbar korrupte und desinteressierte Machthaber stehen einem aufgebrachten Dorf gegenüber. Die Beziehung zu ihrem Liebhaber geht derweil in die Brüche und die Führerin der Aufständischen wiegelt die Menge zum Sturm des Rathauses an. Tüti ist immer und überall mit dabei. Es kommt zum gewaltvollen Konflikt, sogar Tüti involviert sich aktiv und verliert beim Kampf mit dem amtierenden Bürgermeister ein Auge.

Im letzten Akt wird klar, wie Macht korrumpiert. Tüti ist nun selber so etwas wie die Königin des Dorfes. Es werden Todesstrafen für die Revolutionäre und Aufständischen verhängt. Doch eine Figur, der vermeintliche Bruder der Anführerin des Untergrunds, wird sich an Tüti und all seinen Missetaten rächen. Doch wie will man eine unsterbliche Entität umbringen?

Der Stil

Dominik Wendlands Zeichenstil zeigt sich in diesem Werk als sehr reduziert und schemenhaft geometrisch. Die präsentierten Wesen und Menschen sind stilisierte Darstellungen eines Menschen oder eines Tieres. Verlängerte Körperteile, die teilweise unförmigen Gliedmaßen und Gesichter, die manchmal Grimassen ähneln, verkörpern diesen skurrilen Stil. Der Handlung gemäß ist diese Art der Darstellung passend, jedoch nicht zwingend ein Grund, diese Graphic Novel zu lesen. Einen kleinen Eindruck davon erhält man, wenn man sich die im Hintergrund gezeichneten Figuren auf dem Cover ansieht.

Herausstechend ist die vielseitige Verwendung von Farbe. Nahezu jede Seite beziehungsweise Szene ist mit einer eigenen Hauptfarbe versehen worden. Diese sind den jeweiligen Stimmungen gerecht gewählt. Die gewählte Kolorierung bewegt sich zwischen Pastelltönen und kräftigen Farben in gewaltvollen Szenen. Ein stilistisches Merkmal sind die einfarbigen Hintergründe, die jeder Szene den Ton verleihen. Die Figuren haben ebenso einen eindeutigen Farbcode, den sie verkörpern. Rote Töne gehören zu den Machthabern oder Machtgierigen, grüne und braune Farben denen, die diese Machtstruktur aufbrechen wollen.

Ein wenig Dynamik im Bild wird durch die manchmal subtile Schattierung generiert. In den meisten Fällen liegt eine dunklere Farbebene auf den Objekten oder Menschen. Häufig sind es zudem verwandte Farben, die das Panel als Hintergrund bereits etabliert hat.

Fazit
„Tüti“ ist eine kurze Lektüre, die verstören kann und Fragen aufwirft. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Tüti. Alle projizieren etwas in sie hinein, führen Monologe und beantworten sich Fragen selber. Zum anderen kann man fragen, ob dieses Werk im Gesamten eine einzige Analogie zur Konfliktkultur und den Konsequenzen von Handlungen ist. Allerdings konnte diese Graphic Novel, vielleicht auch wegen der überstilisierten Zeichnungen, nicht auf fruchtbaren Boden treffen. Ein Eindruck skurriler Ereignisse, gepaart mit noch skurrileren Zeichnungen bleibt haften. Fernab davon bleibt nicht viel zurück, das ein Windstoß nicht wieder davontragen mag.
Pro
Ein skurriles Szenario mit guten Projektion von Gedanken in Dialogen und einer soliden Portion Gesellschaftskritik.
Kontra
Die Zeichnungen sind ziemlich stark stilisiert; recht wenig Substanz.
5

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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