Mit „9603 Kilometer – Zwei Kinder auf der Flucht“ hat man ein Stück fiktionalisierte europäische Geschichte in den Händen, die einen vor Scham im Boden versinken lässt. Die Künster Cyrille Pomès und Stéphane Marchetti schufen in fantastischen Bildern eine aus vielen Erzählungen zusammengeschriebene Geschichte der Flucht. Das bei Cross Cult erscheinende Hardcover fasst nur einen kleinen Teil der vielen Abertausenden Lebensrealitäten zusammen. Der Versuch besteht. Sie wollten den vielen Flüchtenden eine Geschichte schreiben, die repräsentativ sein könnte. Wer nicht daran glaubt, dass Menschen aus Mangel an Optionen ihre Heimat verlassen und häufig allen Flüchtenden unterstelle, dass sie aus rein wirtschaftlichen Motiven und Gründen der sozialen Absicherung nach Europa strömten, der sollte seine von Ignoranz verfettete Leber auf die Beine stellen und fast ohne Geld 9603 Kilometer durch die nicht eigene Lebenswelt laufen. Diese, die Emotionen hochkochende Reise, dürfen wir nun in einer visuell frisch illustrierten Graphic-Novel bestreiten.
Schicksalsschläge und fehlendes Glück
Adil und Shafi sind zwei ganz gewöhnliche Kinder/Teenager, die ihren liebsten Sportstars nacheifern. Sie leben allerdings in Afghanistan. Eben dort, wo 2014 schon seit 13 Jahren ein viele Opfer kostender Krieg tobte. Seit die westliche Länder das Land militärisch und administrativ verließen, schnellten die dschihadistischen Kräfte wieder aus ihren Schatten.
Eine Autobombe explodierte auf dem Marktplatz unweit von Adil und Shafis „Sport-Spektaktel“, bei dem sie sich die Namen ihrer Helden in heroischen Augenblicken gegenseitig zuwerfen. Niemand von der Familie wurde verletzt, aber die Angst ist ein ständiger Begleiter. Nun starb Adils Vater wegen miserabler medizinischer Versorgung plötzlich. Seine Mutter heiratete aus dem Prinzip der Zweckmäßigkeit den Bruder ihres Mannes. Dieser allerdings gehört zu den ultrakonservativen Brüdern, die ihre Neffen in Märtyrer-Schulen schicken, in denen die Kinder das Gehirn gewaschen bekommen und dann Bomben in Mitten von Menschenmengen zünden sollen.
Nur noch eine Option
Die Verwandtschaft schafft es Adil nach einem gescheiterten Anschlag da raus zu holen. Doch es bleibt ihnen nur ein Weg, die Flucht ins Ausland, weg von der eigenen Familie, die sie wegen Verrats am Dschihad töten würden. So geht die Reise von Adil und Shafi also los, anfangs noch mit Schlepper, Fahrer, Geld und Schuhen. Das Ziel London, denn dort lebt ein Verwandter von Shafi.
Schnell stellen sie fest, dass man sich auf niemanden verlassen kann. Also schlagen sie ihren Weg über den Iran und das mit Schützen übersäte Gebirge, an die Grenzen der Türkei, wo sie tagelang hungernd auf Schlepper warten. Wenige Wochen später, immer auf den Füßen, kommen sie an der griechisch-mazedonischen Grenze an, wo sie die Stacheldrahtbefestigung durchbrechen können. Als sie dann an der serbisch-ungarischen Grenze eine Entscheidung treffen müssen, wie sie ins Zentrum Europas vorstoßen wollen, trennt sich die Gruppe und wenig später werden auch Shafi und Adil von Polizisten unterschiedlich behandelt. Shafi ist verschwunden.
Tristesse in drei Farben
Die gesamte Graphic-Novel changiert zwischen drei Farben, die ihrerseits die monochrome Gestaltung ganzer Episoden bedienen. Es beginnt mit einem Orange-Braunen Ton, der wunderbar die heißen Tage in Afghanistan, aber auch Heimat und Jugend widerspiegelt. Es folgen eine Blau-Grau Episode, abgelöst von einer Oliv-Blauen Phase. Diese drei Farbschemata bleiben bestehen, werden nur in anderen Kontexten wieder verwendet. Ins Besondere die Episode der Geschichte, als sie an der nordfranzösischen Grenze in Calais im tiefsten Winter festsitzen und hoffen über den Ärmelkanal nach London zu gelangen. Viele erwischt es und werden zurückgeschickt, einige schaffen es, andere geben gänzlich auf und bleiben fortan in Frankreich. Die Wege dieser großteils schwer traumatisierten Menschen sind unzählige.
In den expressiven Bildern fängt Marchetti kleine Momente der Resignation, der Freude, des Versagens und der Schönheit. Zwischen all diesen hässlichen Menschen, die andere ausbeuten und ihre Notlage ausnutzen, finden sich kleine Hoffnung spendende Lichtstrahlen der Zuversicht und des Optimismus. Sei es ein kleiner Witz, eine spitze Bemerkung oder einfach ein Panel mit Blick auf eine schöne Landschaft, gelegentlich finden sich auch in der schlimmsten Situation Dinge und Menschen für die man leben will. In Kombination mit der monochromen Farbgestaltung ergibt sich eine wuchtige Atmosphäre vieler Gefühlslagen. Diese vielen Facetten bilden den Kern dieses Werks. Es bleibt aber trotz aller Zuversicht und Optimismus kein Easy-Reading Inhalt, den man mal so unreflektiert wegliest. Falls ja, wäre es schade drum!