Das Recht der Erde – Eine Erzählung über den Boden, der uns trägt

30. Juli 2023
4 Minuten gelesen
Das Recht der Erde Étienne Davodeau Graphic Novel

Wir leben auf der Erde, wörtlich und kosmisch gesehen. Wie der Mensch mit dieser umgeht, seine Verbundenheit äußert, ihr Wert und Respekt zeigt, hat sich gravierend geändert. In diesem Graphic-Essay, der sich wie ein bebilderter Reisebericht liest, geht Étienne Davodeau einem immer wichtiger werdenden Thema auf den Grund. Wie schafft es der Homo Sapiens diesen bisher einzigen lebenden Planeten lebenswert für kommende Generationen zu erhalten? Die Prämisse dieses Werks ist eine 800 Kilometer Wanderung von berühmten französischen Höhlenmalereien bis in den Ort, der künftig als Atommüllendlager fungieren soll. Der Journalist und Gewinner des Prix-Angoulême der Kategorie Szenerie (größter internationaler Graphic-Novel-Preis) Davodeau hat dafür etablierte Fachleute ihres Gebiets zu Rate gezogen, die ihn auf dieser Reise begleiten und Fragen beantworten.

Diese Reportage ist politisch, sie hat eine klare Einstellung und sie ist parteiisch. Der Autor selbst offenbart dies im Laufe seines Schreibens. So eine klare Positionierung macht die geschilderten politischen Missstände und unglaublichen Fakten der französischen Atomkraft-Geschichte leider nicht weniger entsetzlich.

Dank der charmanten und leichtfüßigen Übersetzung durch Tanja Krämling kann man dieses 216 Seiten große Hardcover, das bei Carlsen erscheint, spielerisch auch in schulischen Kontexten verwenden. Die exemplarischen Phänomene politischer Schieflage, die hierin geschildert werden, lohnen sich in Diskussionen auszubreiten.

Des Wandern ist des Autoren Lust

Copyright: Carlsen

Die Reise beginnt in Pech Merle, dem Ort der rund 20.000 Jahre alten Höhlenmalereien. Von der Schönheit, der Ausdruckskraft und der Symbolik beeindruckt macht sich Étienne auf den Weg. Mit einem rund 20kg schweren Rucksack beladen, immer im Zelt schlafend (der geübte Wanderer-Blick lässt den Hersteller sofort erkennen), einer Wanderkarte ausgerüstet und vielen lebhaften Sinneseindrücken nimmt uns der Künstler auf eine wirklich einzigartige Wanderung mit. Das Ziel ist ein unscheinbarer Ort im Nordosten Frankreichs, der traurige Berühmtheit erlangt. In einigen hundert Metern Tiefe soll in Bure ein Atommüllendlager errichtet werden, ohne Rücksicht auf Natur und Mensch.

Dabei gelingt es ihm die kleinen Freuden des Wanderns zu schildern. Beispielsweise frisches Obst im Schatten mit den Füßen in einem Fluss stehend zu essen. Nach einem langen und heißen Sommertag Wasser aus einem Wasserhahn eines örtlichen Friedhofs zu „leihen“ und das Abenteuer der Navigation sind nur einige Beispiele. Es macht prompt Lust selber wieder auf Wanderreise zu gehen. Denn nebst der emotionalen und intellektuellen Reize, die der Künstler griffig und schön beschreibt, zeigt er die Schönheit so einer Reise in seinen Bildern.

Fachlich nachgefragt

Im Kontrast zu seinen ausladenden Panoramen, Landschaftsansichten und detaillierten Zeichnungen stehen die handlungstragenden Interviews. Dabei sollte man sich nicht täuschen lassen, ob der zeitlichen und räumlichen Abläufe. Alle Interviews mit Fachleuten, Zeitzeugen und Betroffenen führte Davodeau vor Beginn der Reise. Er macht allerdings auch in einer die Leser:innen direkten Ansprachen deutlich, dass er sich als Autor die Freiheit nimmt seine Reise zu gestalten, wie er es für dienlich und richtig hält. Es geschieht daher des Häufigeren, dass er die nächste zu interviewende Persönlichkeit am Wegesrand trifft. Sie teilen dann gemeinsam ein Stück des Weges.

Die geführten Gespräche tauchen in Linguistik, Politik, Aktivismus, die Lebenswelten der vom Endlager betroffenen Menschen, Biologie, Produktion von Büchern und ihrer Konservierung und viele weitere Themen ein. In leichtem Plauderton, eben ganz so als würden die zwei Sprechenden gerade nicht nur sinnbildlich einen gemeinsamen Pfad beschreiten, vollziehen sich so die extrem informativen und häufig entsetzenden Gespräche.

Copyright: Carlsen

Aktualität, Relevanz und Form

Dass so etwas wie Höhlenmalereien mit der die zukünftigen Generationen der Menschheit beschäftigenden Frage der Endlagerung von Atommüll zusammenhängen kann, schien anfänglich sonderbar. Jedoch schafft Davodeau ein so komplettes Bild besagter Disziplinen und Erfahrungen, dass diese Verbindung gar mehr nicht zur Debatte stünde. Es gelingt ihm auf unterschiedliche Arten und Weisen festzuhalten, dass die Erde ein fragiles System vieler Einflüsse ist. Dabei vermeidet er Plattitüden oder Aussagen, die aus Kalendern oder Marketing-Kampagnen vermeintlich nachhaltiger Produkte stammen könnten. Seine teilweise knappen Aussagen zu den vorher in den Interviews besprochenen Themen schaffen in Verbindung mit seinen schlichten Bildern großartige Räume für die Realität reflektierenden Gedanken.

Der minimalistische, naturalistische und monochrome Stil der zumeist gemalten Bilder strahlt seine eigene Ruhe aus. Die Perspektiven der jeweiligen Panels erinnern zudem an exzellente Reisefotografie. Mit feinem Tuschestrich und minimaler Schraffur erschafft Davodeau eine Atmosphäre der zauberhaften Natur und Reise. Dies lediglich mit schwarz und grau kolorierten Flächen in Aquarell. Seine Darstellung der Welt ist manchmal abstrakt. Im Gegensatz dazu zeichnet sie sich aber auch durch ein meisterhaftes Auge und liebevoll gestaltete Ansichten seiner bereisten Orte aus. Einige der Panels für sich genommen, könnten ikonische Bilder sein, die die Verbindung Natur und Mensch der Moderne darstellen. Eingefasst werden die Panels von anscheinend handgemalten Rahmen, was die Wirkung der Bilder subtil zu einer Natürlichkeit verstärkt.

Was bleibt?

Copyright: Carlsen

Zugeben muss man allerdings, dass diese Reportage sehr reich an Text ist. Dies liegt in der Natur der Sache, kann aber beim Durchblättern überwältigen oder gar abschrecken. Das Schöne an diesem Werk ist jedoch, dass man es nicht wie der Autor und Wanderer in einem Stück „erlaufen“ muss, um sich den Inhalten angemessen zu widmen. Eigentlich empfiehlt es sich sogar in Etappen zu denken, der Struktur des Buchs und den Interviews zu folgen. Der nötige Abstand zum Werk und zur eigenen Lebenswelt ermöglicht so Spielräume für Reflexion.

Denn eines muss man festhalten: dieses Buch ist eine Kritik am Kapitalismus und all seinen Verfehlungen im Rahmen des Autoren abgesteckten Bereichs des Umweltschutzes. Umso eklatanter und absurder wirken einige Kapitel, die beschreiben wie schon in Frankreich vor einigen Jahren Umweltschützer juristisch zu terroristischen Organisationen umgedeutet wurden. Wie aktuell eben jenes Problem der Täter-Opfer-Umkehr, Stigmatisierung von Aktivismus und der durch Macht und Geld verschobene Diskurs zu unvorhersehbaren Konflikten führen kann, zeigt und mahnt Davodeau eindrücklich. Was werden unsere nächsten Generationen wohl denken, wenn sie zurückblicken auf dieses Verhalten von Regierungen, Gerichten, Ämtern, Beamten, Konzernen und Privatleuten, die über das Umweltchaos informiert waren und dann aber Menschen inhaftierten, die davor warnten?

Das Recht der Erde Étienne Davodeau Graphic Novel
Großartig entsetzlich
„Das Recht der Erde“ ist ein beeindruckend leichtfüßiges Werk, das die Gravität der atomaren Ignoranz und Kurzsichtigkeit in schöne Bilder verkleidet. Étienne Davodeaus Graphic-Report-Reisebericht erzeugt gemischte Gefühle, stellt wichtige Fragen, zeigt die Schönheit des archaischen und einfachen Reisens und landet zum Schluss auf einer dem Menschen zugewandten und versöhnlichen Note. Ein absolute Leseempfehlung für jede Person mit nur einem Funken Interesse für Kultur, Politik und Umwelt. Außerdem spornt es an auf Wanderreise zu gehen, warum denn eigentlich nicht?
Pro
wundervoll illustrierter Reisebericht
spannende und lehrreiche Interviews
klare Haltung und dennoch Platz für eigene Wertung lassend
Kontra
Nichts
10

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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