Ich bleibe von Trondheim & Chevillard

5. September 2023
3 Minuten Lesezeit
Ich bleibe Cover Urlaub Avant Verlag

Gemeinsam einen Urlaub zu planen und diesen dann zu erleben, ist für viele Paare eine große Freude. Was passiert allerdings, wenn sich spontan etwas unausweichlich ändert? Wie geht man damit um? Was heißt es allein zu sein unter Tausenden? Mit einigen dieser Fragen befasst sich „Ich bleibe“. Der mit dem Ehrenorden „Ordre des Arts et des Lettres“ ausgezeichnete und 2006 mit dem „Grand Prix de la Ville d’Angoulême“ für sein Lebenswerk prämierte Autor Lewis Trondheim schrieb diese Geschichte. Mit dem Zeichner Hubert Chevillard schufen sie diese Graphic-Novel, die 2022 den Francomics-Preis erhielt. Dieser Preis entstand durch die Arbeit des „Institut Franco-Allemand d’Erlangen“, also eine französisch-deutsche Kooperation. Nun verlegt der Berliner Avant-Verlag dieses Werk im hochwertig gearbeiteten Hardcover in deutscher Übersetzung von Lilian Pithan.

Im Urlaub bleibe ich

Fabienne und ihr Freund Roland kommen im mediterranen Urlaubsziel Palavas-les-Flots an. Es ist ein beliebter Ort voller Touristen, überfüllter Strände und Sehenswürdigkeiten. Roland hat im Vorfeld alles dezidiert geplant, jede Station punktgenau in einem Kalender notiert und doch geschieht das Unvorhergesehene. Sie haben noch etwas Zeit bevor die Pension sie begrüßt und sie wollen ein wenig am Strand spazieren. In dieser kurzen Zeit der Absenz aller Pläne und Struktur passiert das Unglück. Roland wird von einem durch eine Windböe fortgerissenen Metallaufsteller enthauptet. Fabienne steht unter Schock und auch beim Lesen gerät man kurz ins Stocken. Fabiennes Weg damit umzugehen ist erstaunlich kühl, so sie am klingelnden Telefon des grad verstorbenen Rolands den Verwandten versichert, dass sie gut angekommen wären und es dort schön sei.

Ich bleibe Leseprobe
Copyright: Avant-Verlag

Wir begleiten Fabienne wie sie fortan den Urlaub allein bestreitet, dabei sklavisch dem gemachten Plan ihres verstorbenen Freundes folgt. Sie besucht die Arena und sieht gelangweilt einem „Stier-Kampf“ zu, fährt zu den verschiedensten Sehenswürdigkeiten und empfindet scheinbar nichts. In kleinen Momenten der Abkehr vom Trubel der Touristen und Attraktionen, bricht ihre harte Schale dann doch und sie ergeht sich für einen verschwindenden Moment in der sie überkommenden Trauer.

So wandelt sie ganz für sich durch den Urlaubsort. Trotz ihrer zurückgezogenen Art trifft sie auf einen außergewöhnlichen Menschen, voller Offenheit und Herzlichkeit. Er ist sowas wie eine Berühmtheit vor Ort und führt einen Laden ganz in der Nähe des Cafés, in dem sie sich zum ersten Mal begegnen. Paco könnte man als Überlebenskünstler bezeichnen. Seine gutherzige und offene Art, teilweise mit merkwürdigen Eigenheiten angereichert, lässt schnell deutlich werden, dass Fabienne zur rechten Zeit an einen guten Menschen geraten ist. Sie versucht ihm aus dem Weg zu gehen, da sie ein Spiel auf Kosten von Touristen zu erkennen mag, wird in ihrer Vermutung jedoch enttäuscht. Eine Freundschaft auf Zeit entwickelt sich, gezeichnet von zwangloser Zugewandheit und dem Versuch das Beste der Situation abzugewinnen.

Eine künstlerische Ruhe

Diese eigenartige Situation wird von Hubert Chevillard in lieblichen Bildern erzählt. Ein leichter Strich, freundliche und sommerliche Farben vermitteln einem das Gefühl einer unbeschwerten und schönen Zeit. Dass die gefühlte Realität Fabiennes eine andere ist, lässt sich nicht abstreiten. Immer wieder zeigt der Zeichner, durch Körperhaltung und Mimik, dass sie mit der Situation zu kämpfen hat. Der Eindruck wird vermittelt, dass sie sich zu Teilen über die neu gewonnene Freiheit freut. Andererseits wagt sie es auch nicht vom Plan des dahingeschiedenen Freunds abzuweichen und diese vollends zu genießen. Die wenigen Dialoge in dieser Geschichte, viel mehr die Bilder davor und danach, zeigen eindrücklich wie es um die Emotionen Fabiennes steht. Die Zeichnungen sind zwar detailreich, zeigen aber zeitgleich einen Mut zum Minimalismus. So bleibt viel Raum für Interpretation und Imagination des Leserschaft.

Ich bleibe Leseprobe
Copyright: Avant-Verlag

Die von ihr durchlebte Reise ist voller Widersprüche, visuelle und in der Erzählung. Die Kolorierung und die Fülle an Details der lebhaften und von Touristen gefüllten Umgebung lassen diese Geschichte in einer ambivalenten Atmosphäre schweben. Die stets gelangweilte und selten vom Programm ihres toten Freunds zu begeisternde Fabienne lässt sich gut als Projektionsfläche nutzen. Man beginnt sich zu fragen, wie dieser Urlaub und ihre Stimmung gewesen wäre mit ihrem Freund. Hätte sie dann Spaß gehabt? Der Fokus auf Fabienne und die zugleich unaufgeregten Darstellungen einer aufgeregten Umgebung, machen dieses Werk zu etwas sehr Besonderem. Eine immer anhaltende Ambivalenz der Emotionen und Einstellungen zum Urlaub als solches bleibt durchweg bestehen und bildet den Reiz dieser Geschichte.

Ich bleibe Cover Urlaub Avant Verlag
Eine eigenartig einzigartige Erfahrung
„Ich bleibe“ ist eine außergewöhnlich, ungewöhnliche emotionale Erfahrung einer eigentlich ganz normalen Reise. Die fantastischen Bilder Chevillards erschaffen auf Trondheims Geschichte eine einzigartige Erfahrung. Dank der vielen Freiräume, visuell und erzählerisch, ergeben sich Interpretationsspielräume, Raum für Assoziationen und Fragen, die man sich zweifelsohne anfängt zu fragen. Der eigene Umgang mit einer Situation wie dieser, die Bereitschaft sich auf andere Menschen im Urlaub einzulassen und eine emotionale Überforderung finden hierin Platz und sollen auch erfahren werden. Es ergibt sich daraus eine Geschichte, die man mit Vielerlei belegen kann. Sie lässt aber auch oberflächlich als triviale Story ungewöhnlicher Umstände lesen. So oder so ist sie visuell wie eine warme Brise an einem lebendigen Sommertag.
Pro
schöne Zeichnungen
Raum für eigene Empfindungen
Kontra
vermittelt eine auf Distanz haltende Kühle
Protagonistin unnahbar
7

Über Hünerfürst.de

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Über den Autor

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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