Chartwell Manor

30. März 2021
2 Minuten gelesen
chartwell manor

Jeder Mensch ist stark beeinflusst von seinen Erfahrungen der eigenen Geschichte. Situationen werden anders bewertet, Menschen werden anders betrachtet und auch die eigene Vergangenheit erhält demnach unterschiedlich viel Bedeutung.
In Fällen des Kindesmissbrauchs, egal in welcher Form, ist nicht abzustreiten, dass die Konsequenzen und Schäden daraus unberechenbar und meist leider sehr weitreichend sind. Dann sind eben diese Erfahrungen und Erinnerungen etwas, das unter Umständen eine ganze Biografie bestimmen und grundlegend verändern können.

Der Autor und Zeichner Glenn Head verarbeitet in seinem Werk „Chartwell Manor“ seine Kindheit und Jugend in einem Internat – mit dem Versuch, dieses Kapitel auch für sich ein Stück mehr abzuschließen.

Diese bei Carlsen erschienene Hardcover Graphic Novel ist schonungslos, teilweise verstörend, Ekel erzeugend und vielleicht nicht die beste Lektüre für Betroffene. Doch wer weiß?! Vielleicht ist auch die Identifikation und das gemeinsame Aufarbeiten mit dem Autor und Zeichner ein Weg der Verarbeitung.

Die Handlung

Glenn Head führt uns in seine eigene Vergangenheit. Nachdem wir kurz sehen, wie seine damalige von Alkohol und Pornografie geprägte Lebenssituation in den 80ern war, nimmt er uns mit in seine Schulzeit.

Der Horror auf dem Internat Chartwell Manor beginnt ganz harmlos, fast unscheinbar und sich nur langsam enthüllend. Die Verdachtsmomente häufen sich und auch das Verhalten der Schüler:innen wird zusehends kälter und abgestumpfter. Es wird den Kindern ein perfider „Ehrenkodex“ übergestülpt, sodass der Leiter des Internats nicht in rechtliche Probleme gerät.

Die Geschichten über die Zeit im Internat sind episodisch, kurzweilig und immer wechselnd mit Erlebnissen mit der eigenen Familie. Offensichtlich ist Glenns Familie alles andere als aufmerksam und interessiert, wenn nicht sogar einfach überfordert mit der Erziehung ihres Sohnes.

Einen weiteren und mindestens genauso großen Teil dieser Graphic Novel nimmt sein Leben nach der Schule ein. Das Erwachsensein birgt seine ganz eigenen Tücken, das vor dem Hintergrund einer solchen Kindheit keineswegs leicht für den Künstler verlief. Schwere Alkohol- und Sexsucht, Prostitution und immer wieder scheiternde Beziehungen sind ein sich wiederholendes Thema in dieser Episode der Geschichte. Zugleich zeigt der Autor ein stimmungsvolles Bild des Brooklyns der 80er Jahre.

Doch irgendwann beginnt eine Phase der Veränderung. Head schafft den Absprung aus einem Großteil seines von Sucht geprägten Lebens: Selbshilfegruppen, neue Strukturen und eine immer wieder auftretende Bereitschaft, sich mit seiner Historie und den Geschehnissen in Chartwell Manor zu beschäftigen. Es bleibt einfach unausweichlich, dass er sich seinen Dämonen stellt.

Glenn Head beschreibt in dieser biografischen Graphic Novel den steinigen (und oft selbst von der eigenen Familie abgewerteten) Weg, mit solchen Traumata und Erfahrungen ein „normales“ Leben zu führen. Der Künstler zeigt, wie es seinen Mitschülern ergangen ist und präsentiert damit mehrere andere Biografien und Persönlichkeiten und deren Umgang mit Misshandlung.

Wie bereits zu Beginn angedeutet, ist diese Graphic Novel nicht unbedingt geeignet für Menschen, die sich bei Themen dieser Art zurückgeworfen fühlen in eigene Erlebnisse. Dieses Werk ist zudem sehr explizit, was Gewalt, Sex und Drogen angeht.

Der Stil

Glenn Heads schwarz-weiße Zeichnungen sind stark angelehnt an seine selbsternannten Inspirationen und Vorbilder der 70er und 80er Jahre. Die oftmals sehr detailreichen Panels sind durchdrungen von schwarzer Tinte. Eine gewisse Schwere und nötige Atmosphäre kreiert er damit sehr gelungen.

Die Figuren als solche ähneln des Öfteren einer Karikatur, einem überzeichneten und dennoch Charakteristika beinhaltenden Abbild einer jeweiligen Person.

Setting und Umgebung sind geprägt von geometrisch parallel laufenden Schraffuren und dunklen Tintenflächen, in denen manches Mal weiße Schraffuren oder Details wie in einer Radierung herausblitzen.

Heads Darstellung des Rauschs ist sehr expressiv. Es verschwimmen Formen und Strukturen; konzentrisch angeordnet oder sogar ausschweifend und die Panelstruktur überlagernd. Die Nutzung der Panels und seiner speziellen Formgebung wird in diesem Werk in allen möglichen Facetten genutzt.

Auch zu betonen sind die Verwendung der Soundwords und ihre Einbettung in das Bild. Head verwendet diese phasenweise als kompositorisches Mittel, sogar als stimmungsgebenden Bestandteil. Die Zeichnungen dieser „Klangwörter“ sind in vielen Fällen so gewählt, dass sie häufig in dicken, abgerundeten Buchstaben und dann umrahmt mit passenden schwarz-weißen Formen illustriert wurden. Somit werden häufig Bilder mit großen und expressiven Wörtern gefüllt, die auch eine gewisse Dynamik mit sich bringen.

chartwell manor
Fazit
Abgesehen vom speziellen Zeichenstil trägt sich diese Geschichte über die ganze Länge. Glenn Head weiß mit Bild und Sprache zu schockieren. Die gezeigten Episoden, Erinnerungen und Erlebnisse seiner letzten Jahre sind häufig verstörend und wecken selten positive Gefühle in einem. „Chartwell Manor“ nutzt den manchmal obskur provozierenden Zeichenstil in Kombination mit diesem sehr provokanten, aber wichtigen Thema für die öffentliche Wahrnehmung, um erfolgreich einen Gesamteindruck zu hinterlassen. Traurig, aber wahr, ist diese Geschichte kein „Einzelfall“ oder gar eine Seltenheit. Eine immer noch eher milde Durchsetzung von Strafen und strafrechtlicher Verfolgung von Tätern und eine damit einhergehende gleichzeitige Stigmatisierung und Diffamierung der Opfer sind leider Alltag in vielen betroffenen Familien. Dafür muss jedoch erst das Schweigen gebrochen werden. Dass solch ein Prozess lange dauern kann und welche Folgen das Schweigen haben kann, zeigt Glenn Head in diesem Werk sehr atmosphärisch und umfangreich.
Pro
Glenn Head weiß mit Bild und Sprache zu schockieren. Skurril atmosphärische Zeichnungen und verstörende Szenen zeugen ausdrucksstark von seiner Lebensbewältigung nach seinem Trauma.
Kontra
Der Zeichenstil ist speziell.
9

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Lars Hünerfürst

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