Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi

1. September 2023
7 Minuten gelesen
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel

-Zu Gast bei Familie Takahashi-

Das Frühstück in Kosagawa hielt eine mir bis dato unbekannte Speise bereit, Nattou. Diese fermentierten Sojabohnen hatten einen seltsam muffigen Geruch und waren zu aller Verwunderung umgeben von einem klebrigen Schleim, der endlose Fäden zog und überall haftete. Gewöhnlich würde dazu Senf und eine Sauce, die ich bisher nicht identifizieren konnte, gereicht. Man esse es oft gemischt mit dem vorhandenen Reis. Außerdem fand man zu jeder Mahlzeit eine Miso-Suppe, mit unterschiedlichster Einlage. Bevor die Abreise nahte, lief ich noch zum Strand des kleinen Örtchens. Dieser glitzerte von all dem Mikroplastik und Müll lag dort überall. Ein trauriger Status-Quo. Wie schön und rein es dort wohl einst gewesen sein muss, fragte ich mich in diesem Augenblick. 

Die Fahrt nach Nikaho stand bevor. Knapp eine halbe Stunde Fahrt in Richtung Norden, immer dem Verlauf der Küste folgend, fuhren mich meine Gastgeber nach Hirasawa (平沢). Die Unterkunft stand zu der Zeit leer und die Tür blieb offen.

Angekommen bei der Familie Takahashi begrüßte mich die gesamte Familie in der Einfahrt. Einige freundliche Worte wurden zwischen den Frauen gewechselt, eben jene, die miteinander befreundet waren. Ich versuchte meinen Dank auszusprechen und verbeugte mich tiefer als bisher gewöhnlich. Meine bisherigen Gastgeber und Chaffeure nahmen lächelnd davon Notiz und kicherten ein wenig bei meinem Anblick, schwer bepackt und sichtlich ungeübt eine Verbeugung zu machen.

Ich betrat das Haus und fühlte die darin gelebten Jahre. Kleine Dekorationen standen hier und dort, im Eingangsbereich entdeckte ich solch hölzerne Puzzle, die gleichzeitig auch eine gewisse Mechanik innehielten. Beispielsweise eine Uhr, dessen hölzerne Zahnradmechanik offen lag. Die Flure waren klein und verwinkelt und mit feinem Holzboden gearbeitet. Natürlich auch hier, wie in jedem Haushalt, zog ich meine Schuhe vor betreten des Hauses aus. Man wies mir den Ahnenraum zu. In einer Ecke glimmte ein Räucherstäbchen, an der Decke gegenüber der Schiebetür hingen drei Bilder alter Männer in Sepiatönen. Dieser war der einzige mir ersichtliche mit Tatamis gedeckte Raum und es roch angenehm nach einer Mischung aus Stroh und Räucherstäbchen. Gelegentlich betrat ein Familienmitglied diesen Raum, tönte eine weich klingende Klangschale, zündete ein kleines Stäbchen an und verbeugte sich vor dem kleinen Schrein. Mir wurde leider nicht klar, zu welchem Zeitpunkt dies geschah und wollte auch nicht danach fragen. 

Yui war meine Gesprächsperson und unsere Telefone waren im Dauereinsatz. Hin und her übersetzten wir, um einander überhaupt zu verstehen. Ihre Eltern versuchten gelegentlich mit mir zu reden und gaben sich große Mühe langsam und deutlich zu sprechen, doch es half meist nichts. Ich schämte mich für meine fehlenden Sprachkenntnisse. Mir wurde bewusst, dass ich mir einen großen Teil der Lebensart und Feinheiten der Kultur nur durch Beobachtungen erschließen können würde. Eine Frage zu stellen war mir Dank Googles Technologie ermöglicht. Die Antwort verstehen, konnte ich leider häufig nicht. 

Wir fassten gemeinsam einen Plan. Ich musste mir einen Adapter für das Ladegerät meiner Kamera organisieren und hatte außerdem einen meiner USB-Ladestecker irgendwo auf dem Weg verloren. Außerdem fiel mir beim inspizieren meines Rucksacks auf, dass die vorher genannten hübschen Steinchen am Schultergurt nun doch fehlten. Wie dem auch sei, dachte ich und besann mich an meine vorher formulierte anhaltende Gesundheit während meiner Reisen mit diesen Steinen. 

Der Tag war noch jung und wir begaben uns ins Auto, um einen ganzen Tag umher zu fahren. Sie kutschierten mich zu einem Elektrogeschäft und halfen beim Kauf in diesem überfordernden Angebot. Danach fuhren wir eine ganze Weile über Felder, auf und über Hügel, um bei einem Schrein anzukommen. Dieses erachtlich große Gelände umschloss einen Wasserfall und dessen Flusslauf. Dringend zu beachten vor dem Betreten eines Schreins war die Reinigung. Das hieß sich zumindest die Hände zu waschen und mit dem vorhandenen Quellwasser seinen Mund auszuspülen. Die Mutter der Familie zeigte mir den gesamten Prozess und ich imitierte, ganz so wie es ein Kind getan hätte. Zusammen spazierten wir durch die Anlage des Schreins, der natürlich ebenso an einem Hügel gelegen war. Ganz Japan ist ein einziger Hügel! 

Auf zur nächsten Station. Wir peilten eine alte Tempelanlage an und würden dafür knapp eine Stunde fahren. Yui und Ich saßen auf der Rückbank und unterhielten uns über Mangas, Animes, das Reisen und viele weitere Themen, der Geschwindigkeit des Internets und den Übersetzern folgend. 

Am Ziel angekommen stellten wir fest, dass die Anlage geschlossen war. Nur wenige Meter entfernt jedoch, ein Stück hangaufwärts, stand zu unserer Überraschung eine alte Burg inklusive der dort meist angebundenen Häuser. Diese Kulisse war jedoch für diesen Zweck dort auf dem Gelände der Burg aufgestellt worden. Sie diente schlicht der Repräsentation eines solchen Burgdorfs im Sinne eines begehbaren Museums. Für mich war dies alles sehr viel. Sehr viele Eindrücke, sehr viel kognitive Beanspruchungen im Versuch doch noch etwas mehr zu sprechen und natürlich die immer andauernde Hitze, prasselten auf mich ein. Meine Tourguides waren angesichts der eher weniger speziellen oder aufsehenerregenden Ausstellung ein wenig gelangweilt und liefen in einem für mich zu schnellen Tempo durch das begehbare Museum hindurch. Einige kleine Gegebenheiten erklärte man mir und ich konnte mich derweil einer gewissen Faszination für die Lebensumstände, vor allem aber die Offenheit der Architektur nicht entbehren. Die Wände dieser Häuser waren häufig sehr dünn und man nutzte daher mehrere „Schichten“ von außenliegenden, beweglichen Wänden, die man bei Kälte schloss, hin zu innenliegenden Räumen, die auch alle durch Schiebetüren und bewegliche Wände (Shoji) voneinander getrennt oder verbunden werden konnten. So entstand bei geöffneten Shojis ein großer Raum, der nur von einigen hölzernen Pfeilern optisch gebrochen wurde. 

Im Laufe der Begehung überkam mich eine große Müdigkeit. Ich wollte auf der einen Seite nicht unhöflich sein und der Familie ihre Freude an der Führung, dem Zeigen ihrer Heimat, nehmen. Auf der anderen Seite sehnte ich eigentlich nur danach zu schlafen. Wieder im Auto sitzend einigten wir uns auf ein Mittagessen auf dem Weg zurück. Dies war der erste Kontakt mit der Esskultur aus der Perspektive eines Autofahrenden. Entlang der Hauptverkehrsstraße auf dem Weg zurück kehrten wir in eine Art Autohof ein. Dieser bestand aus einer Häuserreihe, die mehrere unterschiedliche Restaurants und Imbisse, sowie einen kleinen Supermarkt bereithielt. Wir betraten ein Restaurant mit Blick auf das Hafenbecken, worin eine große Betonstruktur lag. Diese im Wasser liegende Betonschale wäre ein Standort für Fischer und diente an diesem Tag ebenso als Ort einer Feier mit großem Feuerwerk. Das Essen war ok.

Nun fuhren wir zurück, kauften auf dem Weg noch gemeinsam das Abendessen ein und erreichten nach vielen Kilometern wieder die Residenz Takahashi. Sofort schmissen wir die Klimaanlage an und jeder suchte sich einen Platz zum Abkühlen. 

In den folgenden Stunden bis zum Abendessen widmeten wir uns etwas, das auf seltsame Art und Weise eine ideale Beschäftigung schien, um sich mit wenig kommunikativem Austausch und viel Raum dafür neue Worte zu lernen und in kontemplativer Ruhe stattfand. Wir puzzelten gemeinsam. Dieses 3000 Teile große Puzzle, so verriet mir Yui, war nun schon seit einem Jahr ein Projekt ihrer Eltern. Es hatte seinen eigenen Tisch im Wohnzimmer und viele farblich sortierte Schächtelchen und Boxen. Der Vater des Hauses widmete sich dem Fernseher während ich mit den Damen puzzelte. Eine gute Gelegenheit und verbindende Aktivität, mit wenig Aufwand und gemeinsamen Erfolgserlebnissen. Man sollte immer ein Puzzle parat haben, wenn Gäste aus dem Ausland kämen, dachte ich mir. 

So verstrich der Abend langsam und die Sonne verschwand allmählich hinter den Häusern am Horizont. Während Yui und ich weiter am Puzzle „arbeiteten“ bereitete ihre Mutter Soba zu. Diese Art Nudel besteht aus Buchweizenmehl, ist daher bräunlich. Man isst sie entweder gebraten oder im Sommer kalt, wie wir es vorhatten. Eine Schale mit einer eiskalten Soba-Sauce stand dafür bereit. Man nahm also etwas der Soba mit seinen Stäbchen und ließ diese dann in der mit etwas Gemüse oder Shiso aufgepeppten Sauce ein wenig Geschmack annehmen. Sehr einfach und super lecker. Man lobte mich meiner Stäbchenhaltung wegen und ich war überrascht zu sehen, dass dies ebenso wenig als „Standard“ anzunehmen wäre, wie ein feiner Umgang mit Messer und Gabel. Die Stäbchen (箸=hashi), die die Familie benutzte, bemerkte ich, sahen wundervoll aus. Ich beschloss mir auch solche zu kaufen. Dem aufmerksamen Leser mag nun aufgefallen sein, dass „hashi“ sowohl Brücke, wie auch Stäbchen bedeuten könnte. Dies führt mich zu einem kleinen Exkurs zur Schriftsprache.

Das japanische Silbenalphabet hat drei Schriftsysteme. Die Hiragana (ひらがな), Katakana (カタカナ) und Kanjis (漢字). Die verhältnismäßig einfachsten sind die erstgenannten. Selbst Muttersprachler (wie Yui mir aus Versehen demonstrierte) haben manchmal ein Problem damit die komplexeren Kanjis richtig zu lesen. Dies lag daran, dass man in der Schule bis zum Abschluss der Oberstufe „nur“ 1000 Zeichen lernte. Damit fände man sich im Alltag zurecht, könne Zeitungen lesen und sonstige Dinge erledigen. Um jedoch einen elaborierteren Ausdruck zu pflegen bedarf es weiteren 1000 bis 2000 Zeichen. Die Kanjis sind des Chinesischen entliehen, die ihrerseits bis zu 6000 dieser Zeichen haben und nutzen. Dies allein kann zu Problemen führen. Auf Grund der Ermangelung einer Zeichenvielfalt werden die drei Schriftsysteme im Japanischen immer miteinander gemischt. Dies besänftigte meinen an mich gestellten Anspruch des Spracherwerbs ein wenig. 

Die restlichen Abendstunden hingen wir alle über meiner Rail-Pass-Karte und wir versuchten zu erörtern, welche Orte auf der Insel Hokkaido am sehenswertesten gewesen wären. Viele Ortsnamen und Ideen später beschlossen wir den Tag zur Ruhe kommen zu lassen. Zum Ausklang puzzelte ich noch ein wenig mit Yui und wir machten große Fortschritte. Ich fragte sie ein wenig aus, über das Dating und Beziehungen in Japan. Sie war Ende Dreißig und ihre Eltern ließen gern Mal einen Kommentar, ob sie nicht irgendwann jemanden heiraten wollte. Sie erklärte mir außerdem, dass es seltener vorkam mit kürzlich gemachten Bekanntschaften schon physisch zu werden. Man gehe erste eine Beziehung ein, beziehungsweise wäre sich der Sache sicher. Solch promiskuitives Verhalten, wie ich es aus Europa kannte, stellte hier eine Seltenheit großer Metropolen wie Tokio dar. Wieder eine Erkenntnis reicher und mit zunehmender Müdigkeit gesegnet, begab auch ich mich in Richtung Bett. Ein reicher Tag, voller kultureller Einblicke in eine Familie und ein Japan längst vergangener Zeit endete auf dem Futon im Raum der Ahnen.

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Über den Autor

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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