Nach einer erholsamen, wenn auch kurzen Nacht, traf ich Yuis Mutter in der Küche an. Sie bereitete schon den Reis für das Frühstück vor. Deren Reiskocher war fast vollautomatisch, also den Reis waschen, quellen und perfekt kochen, alles von allein. Das kleine, aber feine Frühstück schmeckte in der guten Gesellschaft sehr gut. Wir stimmten uns ab, ob der Tagesplanung und ich packte alsbald meinen Rucksack.
Bevor sie mich zum Bahnhof fuhren, betraten wir eine Shopping-Mall in Akita, der nahegelegenen Provinzstadt. Diese vollklimatisierte und große Einkaufshalle hielt einige interessante Dinge bereit entdeckt zu werden. Beispielsweise die Capcom Spielhalle. Die Firma war mir bisher nur bekannt wegen einer exzessiven Phase während der Jugendjahre mit dem Game-Cube Ableger von „Resident Evil“. Das Hauptgeschäft schienen aber eben solche Arcade-Game Hallen zu sein. Das Blinken, Piepsen und die aus Lautsprechern tönenden, immer weiblichen Stimmen, wurden von einem sonoren Rauschen, Rasseln und Elektrobrummen untermalt. Der erste Rundgang durch eine Mall führte uns auch durch ein Bekleidungsgeschäft, denn ich äußerte Interesse an einer Yukata. Dieser leichte Sommerkimono gefiel mir sehr, besonders nach dem Duschen darin rumzuliegen und die gewisse Luftigkeit der Bekleidung zu genießen. Wie dem auch sei, fand ich nicht wonach ich suchte. Auf dem Weg zum Ausgang stießen wir auf einen Händler kunstvoller Keramiken, Tokoname Teekannen und eben auch Stäbchen. Erst verwundert über so manches extrem dick erscheinende Paar Stäbchen, lernte ich, dass die Länge und Stärke eines idealen Paars Stäbchen an der Spanne der zu einem „L“ gestreckten Finger abgelesen würde. Diese Distanz, dieses fingergeformten Längenmaßes, sollte die Länge der Stäbchen nicht um zwei Drittel überschreiten. So ergab sich für mich die mittlere Dicke des vorhandenen und aus edlen Hölzern gefertigten Essbestecks.
Plötzlich war die Zeit knapp. Der Fahrer und Familienvater Takahashi-San beschleunigte erheblich und schleuste uns vier in Windeseile durch die Stadt zum Bahnhof. Dort nahm ich in zügig meinen Rucksack, bekam noch zwei Onigiri für die Reise in einem Kühlbeutel überreicht und wir bewegten uns gemeinsam zur Ticketschranke. Ich verabschiedete mich leider in Eile und die Familie konnte nur noch aus der Ferne ein Foto von mir machen, das ich ihnen vorher versprochen hatte. Eine nicht sehr geglückte Verabschiedung für eine solch herzliche und gastfreundliche Aufnahme ihrerseits. Vom Gleis aus winkte ich noch einige Male nach oben zu meiner Gastfamilie und schon fuhr der Zug ein.
Mir standen nun rund fünf Stunden Bahnfahrt bevor. Diese Zeitspanne hatte unmenschlich auf mich gewirkt. Doch im Laufe meiner Reise würde ich mich an das Bahnfahren und längere Phasen des Sitzens gewöhnt haben. Diese Etappe verlief ganz im Stile eines Shinkansen ruhig und zügig. Eine zunehmende Müdigkeit, die große Anzahl der durchfahrenen Tunnel und das seichte Schaukeln machten mich träge. Mir schwand die Lust am Fotografieren und ich begnügte mich damit gelegentlich ein paar Sätze an diesem Reisebericht zu schreiben, nur um dabei fast vor Erschöpfung einzuschlafen. Die Zugfahrt dauerte eine Weile und ich gewann nur schwerlich wieder an Form. Meine Motivation konnte ich nur Dank einiger Podcasts auf einem annehmbaren Niveau erhalten.
Ein paar Stunden später stieg ich in Morioka (盛岡市) aus dem Zug aus. Ich hatte mir anfänglich in den Kopf gesetzt, so häufig wie möglich und wenig erschöpfend wie nötig, Wege zu Fuß zurückzulegen. Die bisherigen Wandererfahrungen längerer Strecken sprächen für mich, dachte ich. Allerdings rechnete ich nicht mit konstanten Temperaturen über 30 Grad Celsius. Beim Blick auf das heißlaufende Smartphone zeigte sich mir eine Laufstrecke von etwas mehr als einer Stunde in der prallen Sonne, entlang der Hauptverkehrsstraße. Ich entschied mich dagegen und nahm zum ersten Mal ein Taxi. Die Fahrt entlang des Fluss und seinen großen Staudämmen war auch aus dieser Perspektive beeindruckend. Umso annehmbarer natürlich, da der Innenraum des Autos ebenso klimatisiert war, mindestens so gut wie jeder andere „Innenraum“ mit vier Wänden.
Angekommen am Ryokan Yamaichi wurde mir trotz meiner Ankunft vor der Check-In Zeit freundlich das Zimmer gezeigt. Die Besitzer und Angestellten des Ryokans waren alle in Kimonos oder Yukatas gekleidet. Im gesamten Innenbereich lagen Tatamis auf dem Boden oder poliertes Holz blitzte in der gemütlichen Lichtstimmung. Dieses Hotel schien ein beliebter Ort gewesen zu sein, um sich auf einer Reise mit der Familie eine Rast zu genehmigen. Ich traf dort einige Familien, aus mehreren Generationen zusammengesetzt, in dieser Unterkunft ihre Abendruhe fanden.
Bevor ich auf die Reise mit einem Bus zurück nach Morioka angewiesen war, um mir ein Abendessen zu organisieren, buchte ich mir doch lieber eines im Haus. Ich sollte diese Entscheidung in keiner Weise bereuen. Bevor ich jedoch von einem Zimmer-Service und Abendessen der gehobeneren Klasse überrascht wurde, betrat ich das Onsen. Nun also stand mein erstes Mal an. Zuvor fragte ich natürlich auch dort, ob es ein Problem darstellen würde, da ich ja ein Tattoo am Bauch hätte. Allerdings waren zu dieser Zeit kaum Gäste vor Ort und ich konnte mich fast allein im Onsen ausbreiten.
Das Onsen musste nackt betreten werden. Im weiteren Verlauf meiner Onsen-Besuche würde ich beobachten, wie das kleine Handtuch, das man sich zur Abkühlung flach auf den Kopf legte, auch gern genutzt wurde um seine Geschlechtsteile zu verdecken. Bevor man die Becken der heißen Quellen betrat, gehörte es sich grundsätzlich aus Respekt und Reinlichkeit, seinen Körper vorher ausgiebig zu waschen. Dafür standen kleine Hocker und große Schalen aus Holz oder Kunststoff (je nach „Standard“ des Hotels) und eine Auswahl an Shampoos und Seifen bereit, mit denen man sich im Sitzen reinigte.
Ich versuchte, anfänglich noch ungelenk, im Sitzen zu „duschen“ und keine Stelle meines klebrig, verschwitzten und zu Japanern verglichen doch recht haarigen Leibes zu vergessen. Die Waschung war getan und ich schritt vorsichtig in das innenliegende, dampfend warme Becken. Tatsächlich war das Wasser sehr, sehr warm und roch nicht unerheblich nach Schwefel, also gekochten Eiern. Der Information im Internet zu Folge wäre dies doch besonders gut für die Haut und den Blutkreislauf. Ich vertraute der Information und musste überrascht feststellen, dass dieses Wasser tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf ältere Haut bewies. Ich häutete mich nach meinem Besuch fast, während ich mich mit dem Handtuch abtrocknete. Hornhaut adé, freute ich mich zu Beginn. Wäre ich doch an der einen oder anderen Stelle sorgsamer mit meiner Haut umgegangen. Doch diese Lehre würde mir erst zum Ende meiner Reise zu Teil.
Die Hitze bis zum Kinn reichend, saß man also in den häufig gefliesten Becken und hatte zumeist einen schönen Blick auf einen Teil des Gartens oder gar die anliegende Natur der Umgebung. So ließe es sich aushalten, dachte ich mir und quoll innerhalb weniger Minuten auf wie ein Schwamm. Nun verstand ich den Reiz der so häufig in Animes/Mangas, wie „Naruto“, „Kenshin“ oder „Lone Wolf & Cub“ gezeigten Onsens. Zumal die in besagten Animes/Mangas dargestellten heißen Quellen sich noch unter freiem Himmel befanden und man damals vor der Elektrifizierung gerade im Herbst oder Winter sicherlich Stunden darin verbringen konnte, aber wegen der hohen Mineralisierung des Wassers auch bestimmt nicht sollte. Im Anime, wie auch in der Realität, sind die Bäder strikt nach binären Geschlechtern getrennt. Die in Europa wachsende gender-fluide Situation wird hier gar nicht oder nur sehr selten abgebildet. Nicht nur darin zeigte sich mir ein im Kern konservatives Land und seine noch tief in Traditionen verhaftete Kultur. Dies trotz oder gerade wegen der rasanten Technologisierung innerhalb weniger Jahrzehnte und der nun eingenommenen Vorreiterrolle in der Kybernetik.
Ich hielt es im Innenbereich nicht lange aus. Mein Gesicht schwitzte stark und mein Kreislauf begann nach frischer Luft zu verlangen. Außerhalb waren die vorher als so plagend wahrgenommenen knapp 30 Grad im Schatten nun eine Abkühlung. Das Wasser schien auch ein wenig milder und garte meine Zellen nicht im Schongang durch. Als die Hände die faltige Form eines 100-jährigen annahmen, war der richtige Zeitpunkt gekommen um zurück aufs Zimmer zu gehen. Nach einer kurzen Dusche, mich vom Schwefel grob befreiend, schlich ich aufs Zimmer und legte mich hin. Ich verfiel in eine milde Müdigkeit und döste langsam weg. Sich wach zu halten, um noch ein „Programm“ an Sehenswürdigkeiten zu absolvieren, fiel mir nicht ein. Es war schließlich Urlaub, einer der erholend sein sollte.
Mit ein wenig Vorlauf wachte ich wieder auf und suchte nach dem Speisesaal. Man teilte mir mit, dass ich das Essen aufs Zimmer bekäme und war in größtem Maße überrascht. Ich hatte erst ein einziges Mal Zimmer-Service in einem Hotel, natürlich nicht auf meine Kosten. Nun saß ich also in meinem mit Tatamis gedeckten Raum, an dem kniehohen Tisch, gekleidet in eine Baumwollyukata und wartete auf das Essen. Auf einem großen Tablett und in vielen unterschiedlichen Schälchen, Dosen und anderen Gefäßen, mit viel Aufmerksamkeit hergerichtet, brachte man mir das Abendessen. Wenn ich fertig wäre, sollte ich in der Küche anrufen und man würde mir die Nachspeise bringen. Es war ein kulinarisches Erlebnis, das ich in dieser Form niemals an einem so unscheinbaren Ort erwartet hätte. Die Farben und Formen, Geschmäcker und Komposition der selben war schier fantastisch. Der Nachtisch waren Nudeln in eiskalter Brühe, dazu ein wenig Melone, die mit einer zusätzlichen Schicht einer Gelantine gleichen Substanz in Form gebracht und mit zusätzlichen Aromen aufgewertet wurde. Ich war sprachlos und fühlte mich auf jeder Geschmacksrichtung vollständig befriedigt.
In einer seligen Gelassenheit, Dank des Essens und der heißen Quellen, von Innen und Außen legte ich mich wenige Stunden und einige verzweifelte Minuten am Smartphone, auf der Suche nach einem Hotel, hin und schlief tief und fest.