Department of Truth 1: Das Ende der Welt

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Copyright: Splitter Verlag

Es ist nicht abzustreiten, dass der Verlauf der Geschichte durch Verschwörungen an historische Wendepunkte geriet. So zählt beispielsweise der Mord an Caesar zu einer sehr Prominenten. Der Mensch hat nichtsdestotrotz seit Bestehen größerer Machtstrukturen wie Regierungen und Konzernen oder gar wissenschaftlichem Konsens noch etwas dahinter sehen wollen. Die wohl bekanntesten Verschwörungsmythen ranken sich um die inszenierte Mondlandung, den von der Regierung beauftragten Mord an John Fitzgerald Kennedy, den „Inside-Job“ ferner die Anschläge vom 9. September 2001, die flache Erde und natürlich die absolut antisemitische jüdische Weltverschwörung. Natürlich konnte nichts davon bisher stichhaltig bewiesen werden.

Doch was wäre denn eigentlich, wenn in einer Zeit der popkulturell angereicherten Verschwörung plötzlich etwas davon bewiesen werden könnte? Was wäre, wenn die Erde wirklich flach wäre? Wie würde sich die Gesellschaft verhalten, wenn sich herausstelle, dass hochrangige Politiker wirklich nur Reptiloiden sind? Diesem Gedankenexperiment geht der Autor James Tynion der IV. nach. Das Werk des Zeichners Martin Simmonds ist atemberaubend und angsteinflößend zugleich. Das häufig außer acht gelassene Lettering wird von Aditya Bidikar auf die Seiten gebracht und ist ebenso elementar bei der Erschaffung dieser wahnsinnigen Atmosphäre. Bis Juli 2023 werden 4 Hardcover Ausgaben beim Splitter-Verlag erscheinen, die ersten drei Sammelbände sind bereits jetzt erhältlich.

Du musst nur daran glauben – der Glaube versetzt Berge

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Die Handlung beginnt in den von Glaube und Religiosität geprägten USA. Der Mord an John F. Kennedy ist nur wenige Minuten vergangen und Harvey Lee Oswald (der verurteilte Mörder) wird von Agenten verhört. Doch etwas passt nicht ins geläufige Bild. Er wird gebrieft, welche Aussagen er zu tätigen hat und was im Weiteren mit ihm passieren wird. Etwas stimmt nicht.

Wir springen ins Heute. Der Agent Cole Turner, ein ehemaliger FBI-Agent und Ausbilder, wird von der Flat Earth Society angesprochen, ob er nicht Interesse an einer alles verändernden Reise hätte. Er lässt sich darauf ein und wird im Kreise scheinbar Gleichgesinnter in ein Flugzeug gesteckt. Nach mehreren Reisestunden erreichen sie ihr Ziel, das Ende der Welt. Denn dort, wo eigentlich die Erdkugel weiter reichen sollte, steht tatsächlich eine riesige Eismauer. All seine Überzeugungen und Glaubenssätze sind dahin. Haben die Verschwörer doch immer recht gehabt? Müssen nur genügend Menschen daran glauben?

Wenig später tritt eine Geheimorganisation auf ihn zu, das Department of Truth. Niemand geringeres als Harvey Lee Oswald leitet diese. Ihre Aufgabe ist es, die Informationen und schlussendlich die „Wahrheit“ zu retten und die Welt vor weiteren Veränderungen zu bewahren. In dieser von Tynion erdachten Welt reicht es, wenn genügend Menschen an eine Idee, ein Konzept der Welt glauben. Dies manifestiert sich dann als Realität. Agent Cole Turner wird im Kampf gegen Verschwörungsglauben rekrutiert. Er hat persönliche Motive, denn er zählt sich zu den Opfern des Sternenmanns, einer Figur der Satanic Panic in den 1980ern in den USA. Es entspinnt sich eine Agenten-Story, die nicht ganz klar werden lässt, wer „die Guten“ und „die Bösen“ sind.

Form und Inhalt

Das Thema birgt einige Fallstricke. Zum einen bieten sich genügend Spielräume der Maxime zu folgen, dass Verschwörungen schier durch die Masse der Anhänger zu Wahrheiten werden. Zum anderen rechnet James Tynion IV so gnadenlos und unmissverständlich mit der Beeinflussung durch Medien, Politik und Popkultur ab, dass man wirklich sehr unaufmerksam lesen müsste, um dies nicht zu verstehen. Dieses Werk bietet viele Projektionsflächen für die aktuellen Probleme solcher Glaubensstrukturen wie die der Impfskeptiker, Corona-Leugner und dem Glauben an den Heilsbringer Donald Trump, der im Alleingang die amerikanische Gesellschaft for Q-Anon retten wollte.

Das unfassbare Artwork des Martin Simmonds, was sich irgendwo zwischen Collage, Malerei und Skizze bewegt, macht dieses Werk gnadenlos eindrucksvoll. Zugegebenermaßen ist der Stil polarisierend, denn sicherlich gefällt es nicht jedem Lesenden. Die Farbpalette bewegt sich größtenteils zwischen entsättigten und gedeckten Farben. Die reiche Struktur in den Panels, also der Look von Kratzern, Farbflecken, Schraffuren und Schatten und die teils schemenhaften Figuren geben der Graphic-Novel ihre ambivalente Atmosphäre aus Fakt und Fiktion. Alles wirkt etwas aus der Form geraten, denn selbst die zumeist kantigen Sprechblasen werden vom füllenden Weiß überragt und wollen eine andere Formen vorgeben. Es entsteht über die Zeit ein unbehagliches Gefühl, wie Hitchcock es betitelte „Suspense“, das Dissonanz erzeugt und die Anspannung steigen lässt.

Dieses Werk ist nicht leicht verdaulich, gerade wegen der Bilder und des Inhalts.

Wahrheit mal anders!
Der Auftakt mit „The Department of Truth 1: Das Ende der Welt“ schmettert einen mit ganzer Wucht an den Boden seiner Überzeugungen. Was Graphic-Novel künstlerisch und inhaltlich kann, wird in diesem Werk anders definiert. Es ist stark politisch, verstörend, aufwühlend, kraftvoll und schockierend zugleich. Der Grundstein für die Jagd und Bewahrung der „Wahrheit“ ist somit gelegt. Mit dieser Arbeit hat sich James Tynion IV einen weiteren kräftigen Schritt ins Rampenlicht der Comic-Autoren gewagt.
Pro
Großartiges Artwork
Spannende Prämisse
pointierte Gesellschafts- und Medienkritik
Kontra
schwer verdaulich
9

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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