Der Mann meines Bruders – Homosexualität in Japan

6. Dezember 2021
4 Minuten Lesezeit

Japan, das Land der aufgehenden Sonne, bekannt für Sushi, Samurais und eine anhaltende Fastination für Robotik. Doch die Inseln Japans und ihre Jahrtausende alte Kultur hat viel mehr zu bieten, als diese ausgetretenen Klischees. Japan gilt als eines der fortschrittlichsten Länder dieser Welt. Die sich rasant entwickelnde Technologisierung und Automatisierung dürfte jedem bereits dort gewesenen Touristen, spätestens mit den überall vorhandenen Automaten, aufgefallen sein. Diese ersetzen teilweise ganze Supermärkte oder auch Kioske/Spätis.

Allerdings hat die japanische Kultur, trotz ihres progressiven Zukunftsgedankens, einige noch sehr in der Tradition verhaftete gesellschaftliche Normen. So sind beispielsweise der Ehrbegriff, das Ansehen des Namens einer Familie und der respektvolle, andere Menschen nicht belästigende, Umgang nur einige dieser noch tief verwurzelten Aspekte des Lebens.

Normen und Gesellschaft

Eines der bis zum heutigen Tage andauernden und oft in den gesellschaftlichen Diskursen stigmatisierte und tabuisierte Thema ist die Homosexualität. Obwohl man sich als Europäer oft das Recht heraus nimmt, von ganz besonderer kultureller Vielfalt und Toleranz geprägt zu sein, muss man anmerken, dass Homosexualität in der BRD bis in die späten 60er Jahre kriminalisiert war. In der DDR hob man die strafrechtliche Verfolgung bereits Ende der 50er Jahre auf. Tatsächlich wurde aber erst 2017 ein Gesetz verabschiedet, dass das Eherecht für Homosexuelle Paare legalisierte, 2017!

Nun stelle man sich also vor, man lebe in Japan. Ein Land tief geprägt von seiner den Samuraistand emporhebenden Isolationspolitik (1630-1853), dem aufblühenden Nationalismus in den 1910-1940ern, gefolgt von einer massiven Zerstörung und Umstrukturierung der gesamten Gesellschaft in den Folgejahren. So ist der heutige Spagat zwischen westlich-moderner Kultur und dem Rückbesinnen auf eine Kulturtradition ein noch viele Menschen umtreibendes Thema.

Ein Mangaka hat sich dieses Spagats angenommen und bereits mehrere Werke zu diesem Sujet veröffentlicht. Die Rede ist von Gengoroh Tagame und seinem vierteiligen, beim Carlsen Verlag erschienenen, Manga „Der Mann meines Bruders“.

In dieser Reihe befasst sich der Künstler mit Homosexualität auf eine Art und Weise, die gänzlich ohne plakative Klischees oder peinliche Überspitzungen auskommt. Den Trick, den der Autor nutzt, sind die Figuren und ihre ganz eigenen Denkstrukturen.

Die Familie

Copyright: Carlsen Verlag

Der alleinerziehende Vater Yaichi und seine Tochter Kana leben ein gewöhnliches Leben. Yaichi hat vor nur einen Monat zuvor seinen Zwillingsbruder verloren. Selber ist er noch in tiefer Trauer, die er sich aber nicht eingestehen und aus verschiedenen, im späteren Verlauf ersichtlichen, Gründen nicht bewältigen kann. Plötzlich steht eines Tages eine großer bärtiger Kanadier vor der Tür der Familie. Er stellt sich vor als der kanadische Onkel Mike, der Mann des Bruders.

Diese drei werden sich in den folgenden Wochen ein Haus und ein Leben teilen. Man taucht in einen japanischen Lebensstil ein, lernt einiges über die sozialen Gepflogenheiten und versteht Stück für Stück, warum Yaichi sich so schwer tut damit seine Trauer und Gefühle auszuleben. Seine Ex-Frau Natsuki, zu der Yaichi immer noch eine starke Bindung hat, ist eine unregelmäßig auftretende Nebenfigur. Anhand ihrer Beziehung wird sehr viel von Yaichis emotionalem Dilemma erzählt. Vor allem aber springt man kopfüber in das ganz alltägliche Leben eines japanischen Haushalts. Es werden viele, trotz der schwarz weißen Zeichnungen, appetitlich anmutende japanischen Gerichte genannt und Abläufe des gewöhnlichen Lebens in einer reizenden Art und Weise erzählt. Ganz so als sei man selber gerade zu Besuch in einer fremden Kultur.

Die Perspektive machts

Auf Grund der kindlichen Perspektive der Kana, die ganz ohne Scham, soziale Tabus und mit nichts weiter als Neugier genau die Fragen stellt, die man vielleicht selber sich nie traute zu fragen, schafft es Tagame ganz feinfühlig solche „Elefanten im Raum“ herauszuführen. Diese Fragen können von: „Wer ist denn dann die Frau?“ bis zu „Was heißt ‚sich lieben‘?“ reichen.

Yaichi ist von Anfang an, wenn auch niemals offen, auf der Seite eines von Vorurteilen und Abscheu konditionierten Menschens. Seine eigenen Unzulänglichkeiten andere sexuellen Vorlieben zu tolerieren und deswegen alltäglich subtil zu diskriminieren, zeigt sich manchmal sehr unterhaltsam dargestellt, in den von Abscheu durchzogenen und gedachten Dialogen. Diese befinden sich auf einer Seite, also im direkten Vergleich, mit dem tatsächlich gesagten und zeigen herrlich, wie sehr Yaichi sich Mühe gibt sein und das Gesicht des Schwagers Mike zu wahren.

Die Familie wächst im Verlauf der Reihe noch ein wenig an, es kommen zeitweise Figuren dazu und werden nach ihrem Handlungsstrang wieder seicht aus der Geschichte geschrieben. Im Gesamtkonzept dieses Mangas liegt viel sehr schönes. Es werden tiefe Einblicke zugelassen und auch emotionales an Stellen versteckt, in denen man es vielleicht nicht sofort erwarten würde.

Der Stil

Copyright: Carlsen Verlag

Gengoroh Tagames Zeichenstil ist sehr klar, geradlinig und hell. Die Figuren zeigen in ihren Gesichtern, wie sehr der Künstler sich darauf versteht, Gefühle auszudrücken. Selbst in Panels, in denen nicht viel gesprochen wird, entsteht eine greifbare Atmosphäre durch die Bildkomposition. Die kleine Tochter Kana wird an vielen Stellen, auch wegen ihrer extravertierten Mimik, als Comic-Relief oder Mittel für komische Momente genutzt. Ihre ansteckend naive Art, in Kombination mit den wirklich putzigen Zeichnungen, nehmen einen schnell ein.

Dieser Manga ist in seiner Gestaltung eher klassisch und konventionell. Alles andere wäre hinsichtlich der Thematik auch sicherlich inadäquat. Die Schattierungen und farblichen Abstufungen sind mehrheitlich mit Hilfe von Rasterfolien umgesetzt. Einige wenige Schraffuren geben dem Gezeichneten mehr Tiefe und Haptik. Die Umgebungen und auch Kleidungsstücke sind mit viel Liebe zum Detail, auch in ihren Proportionen und Perspektiven sehr treffend, gestaltet worden.

Fazit

Der Bruder meines Mannes“ wurde in den USA mit dem prestigeträchtigsten Comic Preis dem Eisner-Award ausgezeichnet und bestätigt nur, dass diese Geschichte mehr als nur irgendein Manga ist.
Dieser Manga gehört auf jeden Fall in das Bücherregal! Liebevolle Zeichnungen gepaart mit tragisch melancholischen und naiv witzigen Momenten machen dieses Werk zu etwas ganz Besonderem. Das Familienleben, die stetig abgebaute Homophobie, die gemeinsame Trauerarbeit und so viel mehr noch, findet sich in diesem fantastischen Manga. Ein Stück „Slice-of-Life“ Manga, das nicht nur unterhält, sondern auch noch das eigene Denken und Handeln kritisch hinterfragt.

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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