Japans Kultur ist von Sagen und Mystik durchzogen. Bis in den modernen Alltag haben sich Geschichten tradiert und sind in das Leben verwoben. Einen Einblick darin zu erhalten ist meist zeitintensiv und bedarf größere Mengen Literatur, um die reiche Symbolik und vielschichtigen Erzählungen gänzlich zu verstehen. Mit „Roter Schnee“ gewährt uns der Mangaka Katsumata Susumu einen vielseitigen Blick auf das Leben der Leute vom Land. Der Berliner Verlag Reprodukt hat mit dieser Sammlung verschiedener Kurzgeschichten einen guten Einstieg in Japans Kultur herausgebracht. Das mit Klappenbroschur gedruckte Softcover in Manga-typischer Leserichtung präsentiert kleine Episoden aus dem Entstehungszeitraum der 70er und 80er Jahre. Zu jeder Geschichte wird im Anhang etwas Kontext geliefert, sowie ein wenig Hilfe zum Verständnis geboten.
Träume, Geister und Emotionen
In den insgesamt 10 Kurzgeschichten wird das bäuerliche Leben einer kleinen Gegend im nördlichen Japan beschrieben. In dieser Kargen, im Winter bitterkalten Bergregion, ist die Fülle an Mythen und repräsentativen Geschichten groß. Die Nähe zum Berg und den damit, im Glaube des Shintoismus, häufigen Auftreten von Geister- oder Damönenwesen bietet eine gute Grundlage um Mystisches mit Realem zu verbinden. Doch nicht nur die Wesen aus Sagen und Mystik finden ihren Raum in den Episoden. Ein überwiegend großer Teil dieses Mangas wird von den Menschen und ihren Schicksalen bestimmt. Die Lebenswege, dieser durch die raue Natur geprägten Menschen, sind facettenreich und bewegen sich doch häufig um ein Thema.
Es geht um die Liebe, sei sie nun unerwidert oder ausfüllend und wundervoll. Die Zusammenkunft dieser gelebten Mythologie, mit der so viele Aspekte des Lebens bestimmenden Emotion Liebe, gelingt in nahezu jeder Geschichte. Sie werden häufig über einen kindlichen Protagonisten begonnen zu erzählen und wandern meist entlang anderer Charaktere der Geschichte zu neuen Figuren. Die Episoden lesen sich ungewöhnlich unstringent, da sie nicht sklavisch einem handlungstreibenden Protagonisten folgen und der Plot schon Mal eine ganz andere unerwartete Richtung einschlagen kann.
In der Ruhe liegt die Kraft
Vieles sagt Susumu ohne Worte. Die kleinen Momente fängt er in minimalistischen Panels und zeugen von einer häufig romantisierten Ruhe und Andacht im Leben einer Landbevölkerung. Nichtsdestotrotz wird auch deutlich, wie ganz im Geiste der Entstehungszeit dieser Geschichten die Rollenverteilung und Klischees benutzt werden. Frauen sollen dies, Männer dürfen das und dazwischen bleibt wenig übrig. So gelingt allerdings ein Einblick in die Mentalität des Künstlers einer Welt, die sich anfühlt wie das frühe 20. Jahrhundert.
Mit dieser Sammlung gewann Katsumata Susumu 2006 den großen Preis der Nihon Mangaka Kyōkai Shō (Japan Cartoonists Association Award) und reiht sich damit in die Liste berühmter Namen wie Hayao Miyazaki mit „Nausicäa“, Naoki Urasawa mit „20th Century Boys“ oder Gengoroh Tagame mit „Der Mann meines Bruders“ ein. Susumu starb im Jahr darauf, seine Geschichten, die wie er Interviews betonte, verarbeiten seine eigene Kindheit im Norden Japans und das Aufwachsen unter Frauen.
Strich für Strich
Der Zeichenstil dieser Kurzgeschichten ist ganz klar seiner Entstehungszeit und Genre zuzuordnen. Ähnlich wie Shigeru Mizukis Werk Kitaro zeigt Katsumata Susumu mit seinen Panels eine an Cartoon erinnernde Optik. Die Mimik der Figuren ist groß, jedoch nicht so übertrieben wie man sie aus modernen Mangas kennt. Die Gestaltung der Figuren beschränkt sich auf das Nötigste, ist nur in Ausnahmen hartkantig und nicht weich und fließend. Derer Umgebung, also die Natur als Schauplatz oder beispielsweise schlicht die Holzstruktur einer Tür, zeigt Susumu mit äußerster Präzision und Hingabe fürs Detail. So ergibt sich eine lebendige Szenerie, die wie ausgeschmückte Momentaufnahmen aus Erinnerungen, die Atmosphäre in sich tragen.
Ein großer Teil dieses Mangas bleibt allerdings weiß. Zumeist dann, wenn sich relevante Dialoge oder Monologe erstrecken, bleiben die Hintergründe leer. In all den vielen andern Panels nutzt der Mangaka Schraffuren. Dabei scheinen vor allem die frühen Kapitel ohne Rasterfolien, Schraffurhilfe oder ähnliche Hilfsmittel individuell gesetzt. Spätere Episoden bedienen sich dann auch der grautönigen Rasterfolie und dessen für Mangas typischen Optik. Allgemein wirkt dieses Werk in seiner visuellen und symbolischen Sprache sehr geerdet und trotz oder gerade wegen der eingewobenen Sagen und Mythen wie ein „echtes Stück“ japanische Kultur. Die Kurzgeschichten laden auch eben wegen der großen Symbolkraft zum mehrfachen Lesen ein, denn Vieles wird erst dann richtig klar, wenn man sich die verfremdeten und teils autobiografischen Episoden wie einen guten Tee auf der Zunge zergehen lässt.