Der freie Vogel fliegt – Band 1

2. Februar 2021
3 Minuten gelesen
der freie vogel 1 cover

„Der freie Vogel fliegt“ ist eine Kollaboration zweier chinesischer Künstlerinnen. Die Autorin Jidi, namentlich Zu Yale, und die Zeichnerin Ageng, geboren als Pan Liping, haben den von Jidi in China bereits sehr erfolgreichen Jugendroman adaptiert, neu interpretiert und das entstandene Comic in Deutschland zum ersten Mal 2018 veröffentlicht.

Auch dieses Comic wurde vom Verlag Chinabooks E. Wolf in zweisprachiger Ausführung veröffentlicht. Es findet sich also zweimal derselbe Comic in unterschiedlichen Sprachen in einem Buch, daher lässt sich auch der Umfang einer jeden Ausgabe erklären. Dieser Comic hat jedoch hingegen einiger anderer von Chinabooks veröffentlichten Comics eine ausführliche Vokabelliste am Ende jeder Ausgabe sowie ein kleines Glossar zu einigen erklärungswürdigen Begriffen.

Die Handlung und Themen

„Der freie Vogel fliegt“ erzählt über das Aufwachsen und Erwachsenwerden der Lin Xiaolu. Es wird schnell klar, dass sie als Scheidungskind von anderen Menschen anders betrachtet wird. Diese ihr zugeschriebene Rolle lernt sie auf ihre ganz eigene Art zu verkörpern, sie wird eine Zeit lang das, was die Menschen von ihr erwarten. Sie wird, den aktuell geläufigen Methoden nach extrem unpädagogisch, vor der eigenen Grundschulklasse von der Lehrerin bloßgestellt, indem sie um besondere Achtsamkeit und Fürsorge für Xiaolu bittet. Hinter ihrem Rücken verschwören sich jedoch bereits ihre MitschülerInnen und tuscheln über die Abnormalität der Familie Lin. Xiaolu behauptet etwas sehr Erwachsenes und emotional Reifes, das allerdings keiner der MitschülerInnen, geschweige denn die sehr konservative Lehrerin verstehen können:

„Frau Lehrerin, seien Sie versichert, mir geht es gut. Meine Eltern waren noch zu jung fürs Heiraten. Sie kannten den tatsächlichen Charakter ihres Ehepartners noch gar nicht…

Jetzt fangen beide nochmal von vorn an und suchen nach einem passenden Lebensstil, und es ist für beide noch nicht zu spät… Das ist doch wunderbar.

Und deshalb freue ich mich, dass sie sich scheiden lassen.“

Diese Antwort hat ihre Rolle als „das merkwürdige Mädchen“ so sehr verschärft, dass sie sich, als sozial Isolierte, in ihre Fantasie und ihre Comics zurückzieht. Sie beginnt ihr Leben in Gleichnissen zu ihren Lieblingsfiguren zu erzählen, stellt sich innere Monologe in Anime-Form vor und hat stetige Begleiter, die auch im Comic wundervoll liebenswürdig illustriert werden.

Einen schön gestalteten Zeitsprung in die Jahre der Mittelschule und den baldigen Beginn ihrer Oberschulzeit macht das Comic auf einer Doppelseite und beginnt damit mit der eigentlichen Handlung.

Xiaolu schlägt sich so durch ihren Schulalltag, den sie lieber zeichnend verbringt, und muss sich der harten Erziehung ihres Vaters hingeben. Ihre Mutter ist beruflich viel unterwegs und daher nicht befähigt, sie zu erziehen oder ihr Obhut zu bieten. Der Vater hatte bereits geheiratet und ihm wurde ein weiteres Kind geschenkt. Die Beziehung Xiaolus und ihres Vaters kann schlechter nicht sein, er gibt ihr stetig das Gefühl zu versagen und im Leben niemals erfolgreich zu werden. Sie hört auf, auf ihre eigene Stimme zu hören und glaubt ihrem Vater ab einem Punkt. Es ändert sich schlagartig, als die Mutter zurückkehrt und mit ihr gemeinsam in eine andere Stadt zieht, damit Xiaolu ihren Talenten, der Kunst, auf einer darauf ausgerichteten Oberschule nachgehen kann.

So lebt sie ihr Leben zwischen Fantasie und Zeichnungen, bis sie eines Tages einen wohl ebenso eigensinnigen Jungen sieht, der an eine Wand ein Gemälde malt. Von diesem Moment an beginnt eine ulkige und sensible Geschichte der ersten großen Liebe. Das Comic wird zu einem Coming of Age Drama bester Natur. Durch ihre erste Liebe handelt Xiaolu außerhalb ihrer sonst so gewohnten Muster und befreundet sich sogar mit einem Menschen außerhalb ihrer gewöhnlichen sozialen Kontakte. Es stehen Veränderungen für ihr emotionales Leben an und wir als Leser begleiten sie nun auf dieser Reise in den folgenden fünf Bänden.

Jidi und Ageng zeigen in ihrer Geschichte weiterhin Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und dabei auch subtil, wie sich dies in einem doch an vielen Stellen sehr konservativen Land wie China anfühlen muss. Sie schaffen Einblicke in Gedanken und Gefühle, Wünsche und Hoffnungen der Figuren. Die dazu eingesetzten Rückblenden und Erinnerungen der Xiaolu nützen dieser Vertiefung ungemein und schaffen so eine emotional komplexe Figur.

Der Stil

Das Cover lässt schon etwas von der zeichnerischen Raffinesse der Ageng aufblitzen, doch das Comic kann mehr und anders.

Der Stil wirkt, abgesehen vom Cover, sehr handgezeichnet, was sich manchmal an fehlenden geraden Linien auch an Gebäuden oder Räumen sehen lässt. Es fühlt sich ganz echt, authentisch und jung an. Allerdings beweisen die Kompositionen der Künstlerin (vor allem auf großen Splashpages), wie sehr sie ihr Handwerk versteht. Diese Bilder sind so detailreich und atmosphärisch, dass sie einen in die Szene förmlich einsaugen. Zu nennen sind hier einige wirklich fantastische Doppelseiten, wie der Nachtmarkt und der erste Abschied von ihrem verehrten Hán Chè am Figurengeschäft des „Bruder Hu“.

Allgemein referenziert der Inhalt wie auch der Stil zu japanischen Vorbildern. Mimik und Gestik ähneln oft den albern-komischen Figuren der japanischen Mangas. Auch der Zeichenstil ist manchmal ein wenig den japanischen Vorbildern ähnlich, wobei man sagen muss, dass dieser von Ageng gezeichnete Comic eine ganz eigene Stilistik zeigt. Die Koloration, die Schattierungen wie auch das Spiel mit Lichtquellen hat die Künstlerin stimmungsvoll, allerdings an manchen Stellen ein wenig „glossy“, glitzern und kitschig wirken lassen. Dies ist nur dezent, denn großteilig wirkt der Comic realistisch und wie die Aneinanderreihung vieler kleiner schöner Bilder aus digitalen Techniken und Aquarelltechniken.

Ein Kritikpunkt muss allerdings am Lettering der deutschen Version geübt werden. Schwarze Schrift vor dunkelblauem Hintergrund ist keine gute Idee, selbst bei hellen Lesebedingungen. Das chinesischsprachige Original hat diese Passagen in weißen Buchstaben ausgeführt; warum dies der Redaktion nicht aufgefallen ist, lässt sich nur spekulieren.

der freie vogel 1 cover
Fazit
Der erste Band von „Der freie Vogel fliegt“ macht einen grundsoliden Eindruck. Die Figuren sind herzlich erzählt und es entsteht so ein Gefühl von einer großen Erzählung, die noch kommt. Die Geschichte erfindet das Rad nicht neu, arbeitet dafür aber künstlerisch wertvoll und erzählerisch raffiniert bekannte Themen ab. Es lässt sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Geschichte als solche und auch die Art und Weise, wie die Hauptfigur erzählt wird, wie eine Variante zu „Die fabelhafte Welt der Amélie“ wirkt. Lin Xiaolu ist ebenso sehr eigen und voll von Fantasie, die sie tagtäglich in ihrem Leben zu den seltsamsten Fragen oder Feststellungen kommen lässt. Der künstlerische Wert dieses Comics ist sehr hoch und extrem ansprechend, sensibel und realistisch, sodass sich die Geschichte (von der Illustration unterstützt) wie eine wundervolle halb fiktionale und halb reale Biografie der Autorin Jidi lesen lässt. Die zwei Künstlerinnen haben ein schönes Coming of Age-Comic geschaffen, das eine Empfehlung sein sollte für Menschen, die sich für kulturell andere Lebenswelten und andererseits identische, weil absolut menschliche Regungen, Irrungen und Wirrungen interessieren.
Pro
Sympathische und authentische Figuren inmitten von schönen Zeichnungen.
Kontra
Die Figuren sehen manchmal unerkenntlich "anders" aus; teilweise schlechtes Lettering.
8

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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