Parallel

Erst 2017 wurde homosexuellen Menschen das Recht auf eine Ehe zugesprochen. Dies ist in Anbetracht der Tatsache, dass eine Gesellschaft, die sich in freiheitlichem Denken und egalitärem Humanismus personifiziert sehen will, sehr spät. Allerdings ist dies im Falle von Deutschland nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Menschen mit nicht heteronormativen Sexualitäten bis zum Ende des Naziregimes systematisch getötet wurden. Auch nicht verwunderlich ist, dass ein generationsübergreifender Hass und eine Angst in den Köpfen der Menschen stecken blieb.
Ende der 50 Jahre wurde in den heutigen neuen Bundesländern eine Entkriminalisierung homosexueller Auslebung juristisch festgehalten. Erst knapp 10 Jahre später zog die alte Bundesrepublik zur Zeit der Studentenbewegungen und erneuten Aufdeckung von Alt-Nazis dem Gesellschaftswandel nach.

Die beim Reprodukt Verlag veröffentlichte Graphic Novel „Parallel“, geschrieben und gezeichnet von Matthias Lehmann, beschreibt das Leben eines Homosexuellen in der Nachkriegszeit. Ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, welches mehr und mehr Zuwendung erfährt.

Die Handlung

„Parallel“ wird von der Hauptfigur Karl selber erzählt. Erinnerungen, Gedanken, Monologe und manchmal wie ein Geständnis oder das „sich Offenbaren“ wirkende Erzählerboxen führen einen durch die Geschichte. Immer wieder wechselt die Erzählerperspektive zwischen dem alleinstehenden alten Karl und seinem jüngeren Ich. Der junge Karl zeigt uns das Leben im Nachkriegsdeutschland in vielen Facetten.

Karl ist jung, beliebt und sehnt sich danach, wie alle anderen zu sein. In den letzten Monaten des Krieges macht er eine Erfahrung, die ihn und seine Zukunft radikal verändern wird. Er empfindet etwas, das der Gesellschaft nach verboten war. Karl mochte seinen Kameraden im Dienst mehr als nur zum Freund haben. Einmal eine Tür geöffnet, ließ sie sich für Karl nie wieder schließen. Doch sein Geltungsdrang und sein Wunsch nach Normalität ließen nicht von ihm ab.

Er heiratete nach dem Krieg, bekam ein Kind und lebte ein „normales Leben“. Allerdings kann Karl nicht verleugnen, dass ihn andere Männer sehr anziehen. Seine zwischen Scham, Angst und Sehnsucht nach Freiheit der Gefühle stehenden Emotionen belasten ihn zusehends. Bis zu dem Tag, als er sich angetrunken an jemand Falschen ranmachte, lief es auch gut. Nun begann eine Spirale aus Gerüchten und Verleumdungen, die er nicht mehr aufhalten konnte. Seine gegründete Familie verstieß ihn und er verließ den Westen.

Mit ein wenig Hilfe landete er in Leipzig, kam dort gut unter und freundete sich schnell mit der Tochter seiner Vermieterin an. Sie kamen sich näher und es entstand eine Liebesbeziehung, woraus seine zweite Familie entwachsen sollte. Geplagt von Versagensangst vor dieser Familie, getrieben von seinen Gelüsten und gefangen in einem Gesellschaftsbild des Mannes zog es an Karl und machte ihn dünnhäutig.

Es geschah, wie es kommen musste und wovor er sich solch große Sorgen machte. Seine Begierde nach der Nähe eines Mannes sorgte dafür, dass er ins Gefängnis muss. Nach dem Entlassen folgte eine Konfrontation mit seiner Frau und Mutter ihrer gemeinsamen Tochter. Sie verließ ihn und zog nach Westdeutschland.

Der gealterte Karl, dessen Geschichte wir mehr und mehr kennenlernen, steht nun hingegen seiner einst geäußerten Angst, im Alter allein zu sein, vor einer Tatsache, die ihn bedrückt. Acht Jahre ist es her, dass er seine Tochter zum letzten Mal sah. Er möchte ihr alles erzählen, möchte sie gerne wiedersehen und hadert lange damit, einen Brief abzuschicken. Erst auf Anraten seines besten Freundes verfasst er diesen und will sie zu seinem Geburtstag einladen. Sein Lebensgeheimnis werden nur sehr wenige Menschen erfahren, seine Tochter soll eine dieser Menschen werden. Wird sie nach all den Jahren zu seinem Geburtstag erscheinen? Was ist passiert vor acht Jahren? Und wie gelang ihm das Leben mit seiner Familie? All diese Fragen findet man in diesem eindrucksvollen Werk beantwortet.

Der Stil

Die gesamte Geschichte ist in Schwarz und Weiß gehalten. Die Zeichnungen mischen einige Techniken wie Aquarell, Tuschestifte oder Pinsel und sind geprägt von einer leichten Linie, die sich mit teils kräftigen Schatten komplementiert.
Jedes Gesicht und jede Figur sind gleichzeitig filigran im Strich und kräftig in ihren Konturen. Eine wunderbare dualistische Darstellung eines Menschen. Die Nutzung kräftiger und dunkler Panels, in denen das Nachtleben gezeigt wird, im Kontrast zum hell gezeigten Familienalltag lässt nebenbei ganz subtil einiges verlauten.

Matthias Lehmann zeigt in seinen Zeichnungen des Öfteren, wie man die Komposition eines Bildes bestens nutzt und somit manchmal mehr über eine Szene sagen kann, als es der Dialog schafft. Der Art und Weise seiner Erzählung nach finden sich nur wenige Splashpages. Die Panelstruktur allgemein ist sehr konventionell und häufig von großen Panels geprägt.

Die dadurch entstehende Atmosphäre, repräsentiert durch ausdrucksstarke Bilder einer Stadt und dem geheimen Nachtleben, dem wüsten Treiben eines zerstörten Leipzigs, den Eindrücken eines Fabrikarbeiters und dem Alltag eines pensionierten Mannes, ist reich gefüllt mit Sehnsucht und einer Schwere, die manchmal beklemmender Leere weicht.

Fazit
Wer nach dieser Graphic Novel „früher war alles besser“ sagt, dem gehört dringend der Kopf gewaschen. Dieses Werk zeigt, was gesellschaftliche Ächtung in Menschen auslöst und vor allem, wie viele Mitmenschen darunter oftmals leiden mussten. Niemand ist gänzlich unabhängig in seinem Handeln von anderen. Wir alle hängen in einem Netz aus Gesellschaft, in dem jeder Akteur Gestalter derselbigen ist. Manchen Menschen wurde und wird aber die Gestaltung einer gleichberechtigten Gesellschaft, die auf Freiheit jedes Individuums basieren sollte, verwehrt oder ungerecht erschwert. Matthias Lehmann hat es geschafft, eine mitreißend menschliche Geschichte zu erzählen, die sicherlich mehr denn je Gehör finden sollte. Denn ob man es glauben mag oder nicht, noch immer werden, auch in einem noch so fortschrittlichen Deutschland, Menschen ihrer Sexualität wegen angegriffen und ausgegrenzt. „Parallel“ zeigt eindrucksvoll, wie zermürbend es gewesen sein muss (und noch ist), sich „anders“ zu fühlen und einfach nur das zu wollen, was allen Menschen gleich ist: Freunde, Familie, Liebe.
Pro
Matthias Lehmann hat es geschafft, eine mitreißend menschliche Geschichte zu erzählen, die sicherlich mehr denn je Gehör finden sollte.
Kontra
Nichts.
10

Lars Hünerfürst

Minimalistisch und musikalischer Comic Enthusiast - lief zu Fuß von Berlin nach Paris.

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