Celestia

24. Januar 2022
3 mins read

Die Welt steht vor dem Abgrund. Wenn nur wenige Menschen sich retten können, entstehen die eigenartigsten Gruppendynamiken. Kommt dann noch eine kleine Gruppe hinzu, die besondere Fähigkeiten besitzt, verkompliziert sich diese Situation erheblich. Nach welchem Kodex, welcher moralischen Instanz würde man handeln? Wen beschützt man im Falle eines Angriffs? Und wie weit würden Einzelne gehen, um das Schützenswerte zu bewahren? Diesen Fragen geht Manuele Fior in seiner dystopischen Graphic Novel „Celestia“ nach. Der Berliner avant-verlag hat dieses bildgewaltige Werk in einem großen Hardcoverband veröffentlicht.

Eine Parabel in prachtvollen Bildern

Vor langer Zeit kam „die Invasion“, eine unbenannte Gefahr, die die gesamte Welt verändert, gar zerstört hat. Für die Bewohner von Celestia, einer vom Menschen erbauten Insel aus Beton, ist es denkbar unmöglich, außerhalb zu überleben. Sie haben sich eine eigene Gesellschaft aufgebaut, die vor allem die Schattenseiten des Menschseins beherbergen. Prostitution, starke Hierarchien, Diebe, schlechte Versorgung mit Gütern des täglichen Lebens und gänzliche Monotonie beherrscht das Zusammenleben der Celestianer. Nur Pierrot bewegt sich scheinbar zwischen den Welten. Er ist einer der existierenden Telepathen, die sich als kleine elitäre Gesellschaft vom Rest abgesondert haben. Doch möchte er kein Teil dieser Welt sein. Eher sorgt er sich um seine langjährige Freundin Dora, die gegen ihren Willen als eine sehr fähige Telepathin eine Schlüsselfigur in der Gruppierung bilden soll.

Pierrot hilft Dora bei der Flucht vor der Gruppe, deren Anführer Pierrots Vater ist. Gemeinsam wollen sie Celestia verlassen, die Insel hinter sich lassen und vielleicht ein neues Leben beginnen. Dort draußen treffen sie auf weitere talentierte Telepathen, die vor allem Kinder sind. Ihre weiteren Etappen auf der Reise führen sie quer durch das als unbewohnbar beschriebene Festland. Am Ende sollen sie jedoch wieder in Celestia landen. Die Wendungen und unvorhersehbaren Ereignisse dieser Geschichte hatte Pierrot bereits ganz zu Beginn in seiner ihm üblichen poetischen Ausdrucksweise angedeutet. Die kryptischen Zeilen schienen anfänglich keine Relevanz zu haben. Es soll sich anderes zeigen.

Manuele Fiors Werk ist in seiner gesamten Tonalität der Erzählung kryptisch und surreal. Vieles, das angesprochen wird, erfährt keine Auflösung und bleibt im Raum stehen. Die Atmosphäre, die dieses Werk aufbaut, erinnert an Filme der 70er Jahre wie „Wenn die Gondeln Trauer tragen“. Die zwischen psychologischen Phänomenen und brutalster Realität hin und her tanzende Art hinterlässt ein gemischtes Gefühl. Auch die immer wieder auftretenden Wechsel zwischen projizierten Realitäten durch die Telepathen und der tatsächlichen Wirklichkeit schafft eine Stimmung, die eine Ambivalenz im Leser erzeugt. Ebenso vielschichtig und trügerisch wirken die telepathischen Kinder, die sich zu Hunderten außerhalb Celestias sammelten, um die Zukunft der Welt neu zu ordnen. Es lässt sich schwer in Worte kleiden, welche Wirkung diese Geschichte in einem hervorbringt. Man kann es als dystopische Liebestragödie lesen oder als eine Parabel auf die verfallende Gesellschaft, die sich durch Konservativismus das eigene Grab betonierte.

Der Stil

Die Panels dieser Graphic Novel sind allesamt Malereien, wahrhafte Bilder. Der teils zarte Strich der Outlines ist dynamisch wie es ein Pinselstrich nur sein kann. Die Figuren sind klar gestaltet und durch Kleidung und körperliche Charakteristika einfach wiederzuerkennen. Der Ausdruck der Akteure ist kraftvoll und in großen Gefühlen mündend. Selbst dann, wenn es nur die Darstellung von Einsamkeit ist, gelingt es Fior, den Blickwinkel auf eine Figur maximal effektvoll zu nutzen. Einige Male sind die Gesichter der Akteure einer Grimasse gleich, was jedoch der Wirkung und dem Ausdruck keinen Abbruch tut.

Das wohl Eindrucksvollste dieses Werks sind die kubistischen Formen der Städte und Objekte, die durch abstrakte Designs geometrischer Formen unwirkliche Welten zeigen. Des Öfteren wirken die Bilder, als wären sie durch Träume inspiriert und dann zu Papier gebracht worden. Die perspektivisch geometrische und architektonisch futuristische Formensprache dieser städtischen Strukturen kontrastiert immens mit der gezeigten Natur. Es ist ein Fest der visuellen Kunst in Form sowie in Farbe.

Nichts ist so prägend für die Stimmung einer Szene wie eben die Verwendung von Farbe, Licht und Schatten. Manuele Fior zeigt, was alles mit Aquarellfarben möglich ist. Klare Kanten, spielerische Farbverläufe und Abtönungen verschiedenster Farben erzeugen ein grandioses Zusammenspiel, das dieses Werk erheblich bestimmt. Die Vielfalt der gezeigten Stimmungen ist umfassend. Von Szenen in regnerischen Nächten bis zu freundlichstem Sonnenschein findet sich nahezu alles in dieser Geschichte. Trotz der scheinbar fließenden Farben gelingt Fior das Spiel mit Schatten und Licht exzellent. Einige Male verstärkt er die Schattierung mit zarten schwarzen Schraffuren.

Fazit
„Celestia“ ist eine Graphic Novel, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt und die Leser:innen mit verqueren Gefühlen allein lässt. Eine offensichtlich bekannte Handlung zweier Flüchtender sitzt auf einem psychologisch-psychedelischen Unterbau, dem es gelingt, Realität und Traum verschmelzen zu lassen. Die fabelhaften Malereien, die dadurch erzeugte Atmosphäre und die tiefergreifende Geschichte um die zwei Freunde laden ein, dieses Werk mehrfach zu lesen. Sicherlich lässt sich dann immer wieder etwas anderes darin entdecken und diese Graphic Novel gewinnt noch mehr an Bedeutung.
Pro
Faszinierende Erkundung moralischer Dilemmata und Gruppendynamiken in einer dystopischen Welt. Visuell atemberaubend mit ausdrucksstarken, bemalten Tafeln und beeindruckenden Stadtlandschaftsdesigns.
Kontra
Die kryptische und surreale Erzählung weckt möglicherweise bei manchen Lesern den Wunsch nach mehr Auflösung. Die mehrdeutige Erzählweise und die Verschiebungen zwischen projizierten Realitäten mögen möglicherweise nicht alle Leser ansprechen.
9.6

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Über den Autor

Lars Hünerfürst

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