Gefangen zu sein in einer Gesellschaft der Ausgrenzung, üblen Nachrede und der Hinterlist ist, dafür braucht man keine Fantasie, nichts, das man erleben möchte. 61Chi, die in Taiwan geborene Künstlerin, hat diese Kurzgeschichte in „Das Mädchen und der Traumfressertapir“ im Mikrokosmos Schule treffend umgesetzt.
Die Künstlerin hat sieben Jahre lang ihre ersten 10 Bücher im Selbstverlag auf eigene Kosten veröffentlicht, um dann schließlich ihren ersten Comic in einem Verlag zu publizieren. Mittlerweile ist sie professionelle Illustratorin und Comicautorin, die mit einigen renommierten Preisen ausgezeichnet wurde.
Wie auch andere Comics des Chinabook Verlags ist dieses in einer zweisprachigen Ausführung erschienen. Das bedeutet, dass die erste Hälfte mit deutschem Text gefüllt ist und die zweite das chinesische Pendant liefert und dabei denselben Comic zeigt.
Die Handlung
Es beginnt mit einem spannenden Auftakt. Ein zerbrochener Blumentopf, ein Schritt auf eine Balustrade, eine in Angst erstarrte Gruppe Schüler in Uniformen und ein Mädchen, das kurz davor steht, ihr Leben zu nehmen.
„Wie klein… Ganz schön klein diese Schule.“
ist, was die Protagonistin Wu Shizhen in diesem Moment resümiert.
Ein Zeitsprung wirft uns dann in die Zeit drei Monate zuvor. Man erfährt, dass das Mädchen auf einem privaten Internat weit entfernt in den Bergen ihren Alltag verbringt. Sie wird uns als verschlafene und nicht sehr dem Maßstab der anderen Schüler entsprechende strebsame Schülerin präsentiert, die sich zudem nicht mit den Themen ihrer Mitbewohnerinnen identifiziert. Shizhen lässt sich einfach nicht für Taschen oder Handyhüllen begeistern. Sie ist sensibel und kümmert sich um andere. So geschieht es, dass sie beim eiligen Medizin besorgen für eine Mitschülerin ihrem noch jungen Lehrer in die Arme rennt. Eine kleine unverfängliche und keinesfalls anzügliche Geste reicht in diesem kleinen Kosmos Internat jedoch, um ihn zu diffamieren, bis er schließlich wortlos die Schule verlässt.
Es entwickelt sich ein Geflecht aus Mobbing und Verleumdung, dessen Wu Shizhen kaum entkommen kann. Bis sie eines Nachts aus einem Albtraum erwacht und auf ihrem Bauch ein schwarzer Tapir sitzt. Dessen einzige Sorge ist nur, dass ihre und alle anderen Träume der Schüler nicht schmecken würden, langweilig wären oder schlichtweg nicht sättigend genug seien. Es entsteht eine sich zwischen Realität und Fantasie ambivalent bewegende Beziehung der beiden, denn kein anderer kann diesen Tapir sehen oder hören. Wu Shizhen scheint sich mehr und mehr in ihre eigene Welt zu flüchten, bis sie den anhaltenden Demütigungen und dem Unterstellen von Missetaten nicht mehr gewachsen ist. So schließt sich der Kreis zum Anfang. Doch was dann passiert, stellt die ganze Geschichte infrage. Der Comic stellt auch die Frage, wie viel Gehalt ein Traum hat, wie sehr man sich daran festhält, sich der Bedeutung oder dem Schein hingibt.
Der Stil
Das 36 Seiten lange Paperback ist in Schwarz-weiß illustriert worden. Es ist dabei alles andere als ein gewöhnlicher Manhua. Die Zeichnungen reichen von schemenhaften Umrissen der Schüler an der Schule bis zu ausdrucksstarken Close-ups, die einem spielend die Atmosphäre und Gefühle der Wu Shizhen übermitteln. Auch die Umgebung ist oftmals eher skizzenhaft, mit einer Linienführung, die manchmal mehr aussieht wie ein Layout der Szene als das fertige Panel. Die sich zwischen abstrakten Zeichnungen und detaillierten, sehr stimmungsgewaltigen Einblicken in die Lebenswelt der Schüler:innen bewegenden Zeichnungen schaffen den gewollten Eindruck. Es ist beklemmend, düster, kalt und in gewisser Weise eine moralisch dreckige Gesellschaft.
Das gesamte Heft zeichnet sich – nebst der starken Atmosphäre – darin aus, dass der Stil sehr strukturbetont ist. Es scheint, als hätte die Künstlerin 61Chi eine Mischung aus Aquarell, Kohlestift, Tusche und das Durchpausen von strukturgebenden Materialien verwendet. Alles in Schwarz, Weiß und Grautönen dazwischen. Ein wirklich andersartiger Stil, den man so nicht sehr häufig zu sehen bekommt.