Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit

2. Oktober 2023
6 Minuten gelesen
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel

Mit reichlich gutem Schlaf, nach einer schönen Nacht, besann ich mich meines nächsten Ziels. Die verstreichende Zeit schien mich nun bereits wie ein immer fester werdender Griff im Nacken zu ermahnen. Mich beschlich das Gefühl, dass ich es physisch und mental nicht schaffen würde, alles, was ich erleben und sehen wollte in den verbleibenden Tage zu erledigen. Was, wenn ich nicht auf den Fuji gehen sollte? Würde ich etwas verpassen, wenn ich nicht bei einem Sushi-Sensei am Tresen säße? Warum begann es mich so zu stressen? Normalerweise litt ich nicht an der so häufig zitierten „FOMO“, der Fear of Missing Out. Lag es nur daran, dass ich mich über Jahre hinweg auf diese Reise freute und nun am Ort des Geschehens eine zunehmende Lähmung und Überwältigung aller Reize empfand?

Ich beschloss mich nach der nun anstehenden Unterkunft in einem rapiderem Tempo fortzubewegen und fortan schnellere Verbindungen zu wählen. Meine Erfahrungen mit lokalen Regionalzügen gab mir bereits genug an Einblicken. Schließlich wollte ich noch auf eine Teeplantage auf der Südinsel Kyushu und in den Ort Tokoname, aus dem die von mir seit Jahren hoch begehrten Teekannen kommen.

Doch vorerst sollte mich meine am Vorabend gebuchte Unterkunft ins Herz der Präfektur Yamagata führen. Der kleine Beschauliche Ort Akayu wirkte einladend und verband den Komfort eines günstigen Ryokans, also einem eigenen Zimmer in traditioneller Art und einem WC und einer von Natur umgebenen Kleinstadtatmosphäre. Der Weg dorthin war eigentlich kurz. Ich musste nur pünktlich meine Unterkunft im Dorf verlassen. Es fuhr schließlich nur alle drei Stunden ein Zug in meine Richtung.

Bevor es losging nahm ich das verabredete Frühstück in aller Seelenruhe zu mir. Ich war die einzige Person, die während des japanischen Frühstücks allein an einem Tisch saß. Meine Gedanken wanderten, während ich die reichhaltige Mahlzeit langsam zu mir nahm. Ich beobachtete die anderen Gäste aus dem Augenwinkel und bemerkte, wie sie mich ebenfalls gelegentlich musterten. Über meine Haltung der Stäbchen musste ich mir immerhin keine mehr Sorgen machen, so viel war klar. Doch vielleicht würde ich eine der vielen Feinheiten grundlegend falsch machen. Ich wusste nicht, ob es sich gehörte die einzelnen Bestandteile in der Reisschale miteinander zu vermengen. War es angemessen nach mehr Tee zu fragen oder wurde man dann als unersättlich erachtet.

Warum scherte mich dies überhaupt? Ich war schließlich ein langjähriger Bewohner Berlins, also der Stadt, in der man nur in Unterwäsche und einem Superman-Cape bekleidet am Nachmittag in der U-Bahn sitzen konnte und dabei die besten Hits der 80er, 90er und 2000er zum Besten geben durfte. Sicherlich waren meine Zweifel ein auf Gruppendynamik zurückzuführender Effekt meiner Psyche. Nicht auffallen zu wollen in einer Gesellschaft, die augenscheinlich so reglementiert und durchsetzt von mir gänzlich unbekannten Normen war, dass es in manchen Momenten kurze Phasen von Unsicherheit und Vorsicht auslöste.
Ich verließ als erster den Frühstückssaal, in dem wir alle auf Kissen auf dem Tatamiboden saßen und das wiedermal sehr leckere Essen genoss. Nun versuchte ich ein erneut herauszufinden, wo man diese Art Yukata bekommen könnte, die in den Onsens immer bereit lagen. Also trat ich auf die bei erster Beobachtung grimmig wirkende Gastgeberin und Leiterin zu und fragte einfach ganz freundlich. Mit einem Lächeln serviert und einem Lob geschmückt, verpackte ich die Frage offensichtlich so geschickt, dass sie mir auf dem Fleck weg so eine Yukata schenkte. Ich mochte das Muster und fand den Stoff auch herrlich weich. Meine Dankbarkeit versuchte ich mit Verbeugungen, breitem Grinsen und für das Ohr eines Muttersprachlers wahrscheinlich falsch klingenden Dankesworten auszudrücken. Freudig glitt ich die Treppen hoch ins Zimmer, packte diese Errungenschaft knitterfrei in den Rucksack und organisierte meine Abreise. In der Freude vergaß ich die am Vorabend im Gemeinschaftskühlschrank platzierte Tüte mit meinem Reiseproviant.

Ich trottete die einzige Nebenstraße hoch zum Bahnhof und wartete dort auf dem Bahngleis. Den Zug verpassen, wegen zu späten Loslaufens, erschien mir unter keinen Umständen eine Option. Die metallene Raupe schepperte und quietschte heran und ich freute mich auf die noch unbekannte Aussicht hinter den Fenstern, auf dem Weg zum Umsteigebahnhof. Der Transfer in den Shinkansen verlief dann etwas stressig, da ich vorher keine Reservierungen vornahm. Ich erreichte meinen Zug nur knapp.

An der Statio Akayu angekommen schulterte ich meine Taschen mit einem Ruck und machte mich auf zum nächsten Ryokan. Knappe zwanzig Minuten Fußweg schienen keine Hürde, ja sogar ein Leichtes. Immer wieder erschlug mich dann doch die Hitze außerhalb der Züge und fern der gekühlten Bahnhofshallen. Wie in einen dicken Teig aus feuchter und warmer Luft trat ich, von Mal zu Mal weniger begeistert. Immer heftiger wurde auch meine körperliche Reaktion auf diese klimatischen Umstände. So reichten schon besagte zwanzig Minuten, um mich komplett in Schweiß zu tränken.

Tropfend und triefend erreichte ich meine Unterkunft, wie immer etwas zu zu früh. Die Rezeption war so freundlich und ließ mich schon ins Zimmer. Die Sachen abgestellt und kurz durchgeatmet, realisierte ich, wo ich grad gelandet war. Dieses Ryokan hatte eine ganz andere Ausstrahlung, als jede vorige Unterkunft. Ich zog sofort die Kamera und erkundete das Haus. Eine kurze Nachfrage an der sehr freundlichen und wie immer extrem hilfsbereiten Rezeption verschaffte mir schließlich Gewissheit. Ich befand mich in einem 150 Jahre alten Haus, das mit seiner authentischen Bauweise eine eigene Magie ausstrahlte. Kleine Details fielen mir auf, wie die von der Decke hängenden bunten Girlanden und Glöckchen, der im Innenhof liegende traditionelle Garten mit seinen Steinlaternen, der von den Shojis der Zimmerfenster in den Erkern eingerahmt wurde und die ausgezeichneten Holzarbeiten wo man auch hinsah. Im Laufe des Abends würde ich außerdem lernen, dass die Benutzung der Waschmaschinen und Trockner gänzlich kostenlos wäre. Natürlich hatte das Haus auch ein Onsen, das ich mir nicht entgehen lassen würde. Doch vorerst ging ich raus in die kleine Stadt und erkundete die an das Ryokan angrenzende Umgebung.

Ziemlich direkt hinter dem Hotel ragte ein Hügel aus der Stadt heraus. Diese einseitig von Häusern umschlossene grüne Insel schien mir genau der richtige Ort für einen heißen Tag wie diesen. So markierte ich, mit den von meinem Kinn tropfenden Tränen meines echauffierten Körpers, den Weg die steilen Steintreppen hinauf. Schon wieder völlig durchnässt, nahm ich mir die Zeit den Ausblick im Schatten einzuatmen. Die Insekten sammelten sich ebenfalls mit mir in dieser kleinen hügligen Oase. Eine weitere mir unbekannte, wegen ihrer intensiv schwarzen Färbung ins Auge fallende Libelle, schwirrte durch die Gegend. Sie setzte sich dafür bereit fotografiert zu werden auf die Jahrhunderte alten Steinstufen zum Tempel. In gemächlicher Ruhe schlenderte ich im Kreis, dem Weg rundherum folgend und nahm mir die Zeit mich der Atmosphäre des Ortes entsprechend unaufgeregt zu sein. Ein kleiner Froschteich ludt mich ein dort eine Welte zu verweilen. In diesem kleinen Tümpel existierten alle Stadien der Entwicklung parallel, von der Quappe bis zum Frosch und alles dazwischen. Ich sah zum ersten Mal eine Frosch-Quappe und fand sie mindestens so interssant, wie diese kleinen Tierchen mich mit ihren großen Augen anstarrten.

Ein kleiner Hunger machte sich breit und ich beendete den Rundgang um den Hügel in erfrischender Ruhe. Im nahegelegenen Konbini stärkte ich mich anschließend mit ein wenig kaltem Tee, einem isotonischen Zuckerwasser und einem Snack auf die Hand. Nun musste nur noch eine richtige Mahlzeit daher.

Der nächstgelegene Ramenladen sollte es werden. Im Laden angekommen wurde ich wie immer mit freundlichen Gesten und Begrüßungsfloskeln empfangen. Der Kellner fragte woher ich käme und versuchte nach der Preisgabe meines Wohnortes ein, zwei Worte Deutsch zu sprechen. Es war schlicht egal, wo man sich auf der Welt befand, immer führte ein ähnliches Phänomen einen gewissen Typ Mensch zusammen. Jene, die sich auf andere Menschen einließen, ihre Fehlbarkeiten nicht hinter der Maske der makellosen Fassade des Perfektionismus versteckten und sich durch krumm und schiefes Vokabular und eine krude Aussprache die Blöße gaben, wirkten schon immer grundlos sympathisch auf mich. Freundlich, neugierig und zugewandt sollte man sein dachte ich mir. Dann würde man überall Gleichgesinnte treffen, die einem ein gutes Gefühl geben wollten, indem sie zumindest versuchten die Sprache des Gegenüber zu sprechen und so eine Gemeinsamkeit auf kleinster Ebene zu erschaffen. Die Ramen war nur ok leider.

Nach der Mahlzeit kehrte ich zum Ryokan zurück und startete einen lange überfälligen Waschgang meiner von körperlicher Anstrengung durchnässten Kleidung. Während die kostenlose Wäsche schleuderte und taumelte, siechte ich im warmen Wasser des Onsen und entspannte meine müden Beine. Trotz der vermeintlich vielen Fahrtstrecken mit Zügen, Bussen und Taxis spürte ich, wie sich die Muskeln in den Waden allmählich fester und verspannter anfühlten. Das wärmende Wasser half dabei mich mental und physisch zu entspannen. Oh wie sehr ich diese Kultur des Badens wohl vermissen würde, begann ich bereits dann zu denken. Mir wurde bewusst, dass ich die letzten Jahren des Nicht-Badens in diesen paar Wochen kompensiert hatte. Als Bewohner einer kleinen Wohnung in Berlin hat man schließlich selten eine Badewanne. Es hätte mir auch in Zeiten der steigenden Wasserknappheit in Europa nichts ferner liegen können, als jeden zweiten Tag mehrere hundert Liter Wasser den Abfluss hinabzujagen. Dies im Hinterkopf tragend, genoss ich jede weitere Minute, die meine Haut schrumpeliger werden ließ.

Mit der fertig gewaschenen und getrockneten Wäsche im Arm schlenderte ich zu meinem Zimmer und nutzte die Stunden des Abends, um ein paar Telefonate nach Deutschland zu führen. Rasend schnell verging die Zeit und es war plötzlich mitten in der Nacht. Nachdem ich mich von meiner Welle eines Glücksgefühls wieder hinab ins seichte Wasser geschwungen hatte, legte ich mich hin und schlief so gut wie seit langem nicht mehr. Sogar so gut, dass ich die Check-Out Zeit zum allerersten und einzigen Mal verschlafen würde.

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