Aller Anfang sei schwer, sagte der Volksmund. Da ich gut geübt darin war Dinge anzufangen, sie aber selten zu Ende brachte, schien mir diese Redewendung nie wirklich zutreffend. Auf dem Flughafen Haneda erhielt ich am Schalter der Japan-Rail mein 21 Tage gültiges „Japan Rail Pass“ Ticket. Dies war der Schein in die unbeschwerte Reisefreiheit. Ausgenommen des städtischen Nahverkehrs könnte ich mit diesem kleinen Stück Papier durch ganz Japan reisen. Bis auf die weltberühmten Bullet-Trains (Nozomi und Mizuho) wäre es mir freigestellt, wann, wie oft und wohin ich in diesen drei Wochen fahren wollte. Mein durch nicht existente Buchungen unausgereifter Plan, nahm zumindest in Gedanken Form an. Es sollte zuerst Richtung Norden gehen. Ich nahm mir vor so viele kleine Orte, abgelegene Plätze, Städte von Rang und Namen, vielleicht sogar einen Berg und natürlich viele landestypische Unterkünfte zu sehen.
Mein erster Stopp lag mitten in Tokio (東京) ganz in der Nähe eines mir aus Duolingo bekannten Parks. Ich werde mich an dieser Stelle kurz mit Duolingo als Sprachlern-App auseinandersetzen. Es funktioniert eher schlecht als recht. Ende der Auseinandersetzung.
Mit Sack und Pack und bereits etwas geschnupperter Luft eines Shinkansen machte ich mich auf zum einzigen im vornherein gebuchten Hotel. Die erste Nacht sollte reibungslos ablaufen, hatte ich mir überlegt. Eine kluge Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. So lief ich also mit meinem insgesamt ungefähr 20 Kilogramm schweren Gepäck auf dem Rücken durch einen kleinen Teil der weltgrößten Stadt. Die knapp 45 Minuten Fußweg und die an die 33° Celsius kratzenden Temperaturen ergossen sich von meinem Gesicht bis über den Rücken in die Schuhe. Ich war ein laufendes Stück salziges Wasser. Allerdings durchlief ich schon einige interessante Gebiete, die ich mir am Ende meiner Reise, nämlich dann, wenn das Ticket nicht mehr gelten würde, ausgiebig ansehen mochte. Eine Region davon war Akihabara, eine für quietschig bunte Straßen, vieles aus dem Bereich Otaku (Cosplay und Popkultur) und enge Straßenmärkte bekannte Nachbarschaft. Den berühmten Ueno Park konnte ich mir außerdem noch nicht ansehen. Ganz zu schweigen von dem weltweit einzigen offiziellen Ghibli-Museum im Westen Tokios.
Endlich am Hotel angekommen war ich extrem überrascht, wie klein das Gebäude schien (allerhöchstens 8 Meter breit) und wie wenig ich dann schlussendlich für den Komfort dieser Art gezahlt hatte. Mit einem guten Gefühl einen echten „Schnapper“ gemacht zu haben, freute ich mich über die Dusche. Alles von mir werfend, machte ich mich prompt mit den neuen Gegebenheiten vertraut, wenn es ums Waschen des Körpers ging. Die Duschwannen waren echte Wannen, also in fast jedem Fall höher als breit. Darin zu stehen, wie ich es schätzungsweise die letzten 25 Jahren gewohnt war, erschien mir keine wahre Option. In Japan säße man häufig beim Waschen, dies vermittelte zumindest der Eindruck aus Film und Serien. Also setzte ich, beziehungsweise hockte ich mich hin und nahm die erste Dusche mit entdeckerischer Freude. Nach dieser kleinen Alltäglichkeit kam ich erst richtig an. Die Kleinigkeiten sind es, die die größten Änderungen bewusst machen.
Das durchgeschwitzte T-Shirt, die Unterwäsche und die lange, schwarze Leinenhose hing ich zum Trocknen auf. Viel Auswahl an Kleidung hatte ich schließlich nicht mit mir und so lange man keine unangenehmen Gerüche oder kristalline Salzvorräte auf dem T-Shirt erkannte, war ich gewillt dieses noch ein paar Mal zu nutzen. Gut nur, dass ich durch die Wanderreise durch Zentraleuropa keine falsche Scham vor solchem Umgang mit Kleidung habe. Wie anstrengend es wohl geworden wäre die mir zugestandenen zweimal 23 Kilo schweren Gepäckstücke ständig herum zu ziehen. Spontan etwas fotografieren kann so auch niemand.
Noch recht wach und neugierig wappnete ich mich mit meiner Umhängetasche (im Weiteren nur noch als mobiles Büro bezeichnet) und der nur teils vollgepackten Fototasche, eine Links und die andere Rechts. Es gab einfach nichts unangenehmeres, als diese mit jedem Schritt in die mittig gelegenen Weichteile schwingenden Taschen.
In der Wärme des frühen Abends irrte ich durch die kleinen Straßen und Gassen der Nachbarschaft. Nur wenige Meter wahllos abgebogen und ich kreuzte den Weg eines Tempels, kurz danach stand ich vor einem Schrein, dann einem buddhistischen Friedhof, gegenüber ragte ein siebenstöckiges und moderne Architektur atmendes Haus, davor einer der Millionen Getränkeautomaten, eingerahmt von Töpfen voller Pflanzen. Ich mochte die Nachbarschaft sofort. Innerhalb weniger gelaufener Meter, über einen Zeitraum von knapp anderthalb Stunden, realisierte ich warum Tokio eine wirklich beeindruckende Stadt war. Alles war schmal, extrem dicht bebaut und trotzdem konnte man als Fußgänger zu einer Zeit der Rush-Hour gemütlich minutenlang durch die Straßen schlendern. Diese Region war zudem so leise, dass ich die kleinsten Vögel von den Dächern der Tempel singen hören konnte. Wie ich es wegen der medialen Beeinflussung erwartet hatte, blitzten die Straßen förmlich vor Sauberkeit. Selbst die saubersten Straßen Berlins fühlten sich dagegen an, wie die einer Hobbyliga im Stadtreinigungs-Sport.
Das grobe Ziel für diese Entdeckungsreise durch die Nachbarschaft Taitou (台東) war natürlich ein Restaurant. Ohne lange zu überlegen hatte ich mir das beste, zu Fuß erreichbare Ramen-ya (Ramen-Laden) rausgesucht. Dort angekommen, verstand ich, dass sich die Automatisierung in Japan auf einem anderen Niveau befand. Die Bestellung nahm ich selbst in diesem kleinen Laden an einem Automaten vor, an dem ich auch direkt bezahlte. Alles dort geschriebene war natürlich in Japanisch und wiederum wurde mir meine Unwissenheit vorgeführt. Erst der Koch, der aus der offenen Küche über den kleinen Tresen hinweg zu mir auf Englisch rief was ich drücken müsse, ermöglichte mir nicht an Ramen-Entzug zu Grunde zu gehen. Den kleinen, ausgedruckten Zettel mit der Bestellung „Shoyu Masterpiece“ überreichte ich dem überraschend gut Englisch sprechenden, dennoch mürrisch dreinblickenden Koch unter dankbarer Bekräftigung. „Arigatougozaimasu“, also „Vielen Dank“ oder „Danke sehr“ gehörte ab da an zu meinen meist gesagten Worten. Es sollte noch öfter vorkommen, dass ich nur Dank der Hilfe anderer Menschen zum Ziel meiner Vorstellungen kommen würde. Die Ramen war sehr gut, wenn auch die sehr nach verbranntem, rauchigem Öl schmeckende Flüssigkeit, die der Koch drüber träufelte etwas gewöhnungsbedürftig war. Ein fantastischer Start war es trotzdem.
Also machte ich mich auf den Weg zurück, unterbrochen von einer Zigarettenpause. Falls Ihr euch fragt, ja, dies ist einer Nennung würdig. In ganz Japan ist das Rauchen auf der Straße und öffentlichen Plätzen verboten. Daher freute ich mich eine Frau am Straßenrand vor einem der vielen, teilweise nur zwei Autos umfassenden, Parkplätze rauchen zu sehen. Ich setzte mich grüßend neben sie. In dem Gefühl keine Grenzen überschritten zu haben oder Gefahr gelaufen zu sein einen Strafzettel bezahlen zu müssen, schaute ich von unten herauf die auf Fahrrädern vorbeifahrenden und längs schlendernden Menschen an. Die Zigarette glimmte vor sich hin und ich wurde wie jemand beäugt, dessen Achtung vor nichts zurückscheute. Dabei saß doch gerade noch eine Anwohnerin Tokios neben mir.
Auf dem Weg zurück stöberte ich, nach dem Geld abheben, in einem 7-Eleven nach Snacks für einen abendlichen Hunger. Fündig wurde ich mit meiner ersten von unzählbar vielen Cold-Brew Tees der verschiedensten Marken, einem dieser aus dem Internet bekannten sehr fluffig weichen Kuchen und einer Tafel japanischer Schokolade-Drops. Diese immense zuckerhaltige Vorfreude trug meine doch sehr ermüdeten Füße bis zurück zum Hotel. Die Straßen, der von mir kurzzeitig bewohnten Gegend wirkten selbst zu dieser eigentlich hektischen Tageszeit, eigenartig leer und leise. Im Hotel angekommen, zuvor in der Hitze der Stadt fast medium-rare durchgebraten, schmiss ich die Klimaanlage an, legte mich aufs Bett und war schneller eingeschlafen, als ich den Kuchen aufessen konnte.
Stunden später wurde ich wach. Das musste dieser Jetlag sein von dem alle immer erzählten. Denn so weit ich mich erinnerte, hatte ich bisher keine übergroßen Probleme mit Zeitverschiebungen. Meine Taktik hatte sich bislang als exzellent funktional herausgestellt. Ich versuchte bereits einen Tag vor der Abreise den zu erreichenden Tag-Nachtrhythmus zu leben. Dies klappte dieses Mal jedoch nicht sehr gut. Somit ich die ersten Tage in Japan, zu den unmöglichsten Zeiten, immer wieder einen mich überkommenden Drang verspürte mich auf der Stelle hinzulegen und zu schlafen.
Jedenfalls nahm ich meine Kamera, ein wenig Geld für mehr kalten Tee aus einem Automaten und spazierte durch die selbe Nachbarschaft bei Nacht. Die unglaubliche Stille, die diese größte und meistbesuchte Stadt der Welt ausstrahlte war paradox. Im Versuch ein paar Fotos im Schutz der Nacht zu schießen, gelangte ich zu wiederum anderen Tempeln und Friedhöfen. Als ich einem einsamen Polizisten begegnete, der breitbeinig im „cruise-mode“ auf seinem Fahrrad durch die Gegend fuhr, wusste ich, dass es Zeit war schlafen zu gehen. Bevor ich allerdings ins Reich Morpheus hinüberfahren konnte, musste ich mir noch eine Unterkunft für den nächsten Tag buchen. Aus Ermangelung sprachlicher Fähigkeiten, Angeboten und der Bereitschaft 100€ pro Nacht auszugeben, nahm ich einen mir bekannt klingenden Ort ins Visier. In einem kleinen verschlafenen Nest direkt an der Küste, gab es noch ein Zimmer frei. Entdeckt, gebucht, Verbindung gesucht und das Handy ans Ladekabel gesteckt, deckte ich mich endlich zu. Der Tag war lang genug und so schloss ich zum ersten Mal um ungefähr 3 Uhr morgens in Japan die Augen in der Absicht nachts zu schlafen.