Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise

  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel

Früh genug wachte ich auf, um in aller Gemütlichkeit einen eiskalten Kaffee aus dem Automaten im Raucherbereich hinter dem Hotel zu trinken. Ich rauchte genüsslich, dabei meine noch vorhandene Menge Tabak inspizierend. Bisher sah es so aus, als müsste ich nicht auf Japans breites Angebot teils sehr günstiger Zigaretten zurückgreifen.

Während ich dort so saß, trank und rauchte, kam ein Mann dazu und setzte sich mir gegenüber. Ich grüßte auf japanisch, doch stellte sich raus, dass er nur Englisch oder Chinesisch sprach. Prompt zückte er sein Telefon und wir hielten ein Gespräch über seine mir gänzlich unbekannte und sehr gut funktionierende Übersetzer-App. Es schien er war ein großer Fan Deutschlands, vor allem von Autos. Sein Sohn würde bald nach Deutschland gehen, um dort zu studieren, denn es war billig. Als er mir von der Höhe der Studiengebühren in China berichtete, die sogar die der US-amerikanischen Universitätsgebühren überstiegen, war ich sehr schockiert. Wie schade, dass Bildung immer noch, vielleicht, auch wieder zunehmend, eine Struktur der Klassen förderte und bedingte. Er kommentierte die langsame Fahrweise der Japaner witzelnd abschätzig und bekräftigte die Freude bald auf einer deutschen Autobahn fahren zu können, wenn er seinen Sohn besuchen würde. Ich erwiderte, dass ich es als außergewöhnlich angenehm empfand überall in Japan auf und neben der Straße laufen zu können, ohne dabei Angst zu haben, von einem Auto erfasst, angehupt oder bedrängt zu werden. Er stimmte zu, doch schien es mir so, als hätte er selten aus der Perspektive des Fußgängers das Miteinander auf der Straße betrachtet.

Ich erzählte ihm, um das Thema zu wechseln und mich nicht in den verkehrspolitischen Irrsinn Deutschlands hineindenken zu müssen, dass chinesischer Tee sehr beliebt sei unter europäischen Teetrinkern. Aus seiner Heimatregion Shaanxi hatte ich auch schon einen Tee vorliegen und genoß diesen sehr, erinnerte ich mich. Sicherlich war ihm die Relevanz Chinas für den weltweiten Teemarkt bekannt, denn er bemühte sich nicht darum darauf einzugehen oder das Gespräch in diese Richtung fortzuführen. Ein Blick auf die Uhr zwang mich dieses lockere, aber stockende Gespräch mit gelegentlich vielversprechenden Einblicken vorschnell zu beenden. Ich wollte die schnellste Verbindung nach Takayama nicht verpassen.

Den vorbildlich am Vorabend gepackten Rucksack schulterte ich Widerwillens mit einem Ruck und verließ das überaus große Zimmer. An der Rezeption legte ich die kreditkartengroße Zimmerkarte auf den Tresen, verabschiedete mich kurz und ging hinaus in einen der heißesten Tage meiner 32 Tage Aufenthalt. Mein Frühstück musste sich, wegen der nun doch knapp werdenden Zeit, auf die am Vorabend gekauften Onigiri beschränken. Die Zugverbindung auf dem Weg nach Nagoya war erheblich unkomplizierter als noch am Vortag, aber schnell bemerkte ich etwas bisher Ungesehenes. Die Bahnsteige und Züge waren brechend voll. Natürlich hatte ich in genau dieser Situation auch keinen Sitz mehr reservieren können, alles war restlos ausgebucht. Zum Glück war die Fahrt nicht sehr lang.

Mein Tagesziel lag nur wenige hundert Kilometer entfernt im Norden. Dort befand sich die kleine Stadt Takayama (高山市), die sich durch ihre Altstadt auszeichnete. Man erhielt die Architektur und das Straßenbild durch das Verstecken der sonst oberhalb der Straße geführten Kabel. Ganz in der Nähe der Stadt sollte sich ein Freilichtmuseum befinden, das in seiner Größe und abgebildeten Zeitspanne einzigartig sei. Es wäre wohl wie ein Dorf angeordnet, das bestehend aus authentischen, vor Ort erbauten oder dorthin umgezogenen bis zu 800 Jahre alten Häusern bestehen sollte. Die Bilder im Internet versprachen einiges und ich machte mich freudig auf den Weg. Ich hatte nicht erwartet, dass das, was ich nun auf der Fahrt sähe, so beeindruckend und atemberaubend sein konnte.

Ein wenig müde und nicht ganz bei vollen Kräften setzte ich mich in den Zug nach Norden in das Herz der Gifu-Präfektur. Meinen Rucksack am Eingang zum Zugabteil platziert, meine Kameratasche und das mobile Büro immer nah bei mir, setzte ich mich in den halb leeren Zug und schaute mit mattem Blick aus dem Fenster. Die kleine Ernüchterung des gestrigen Tages ging mir durch den Kopf. Meine naive Vorstellung einer zentralisierten Keramik- und Kunstszene bröselte so dahin. Andererseits freute ich mich sehr über meine Errungenschaft, die kleine blaue Kyusu Teekanne.

Doch dann brach meine Ermüdung und getrübte Stimmung auf und ließ wie eine sich spaltende Wolkendecke die Sonne herein. Denn kaum hatten wir den Rand der Stadt Nagoya hinter uns gelassen, eröffnete sich mir eine fantastische Szenerie. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Der Zug fuhr durch endlose, malerische Täler, umgeben von saftig grünen Bergen, durchschnitten von Flüssen, die mit ihrem klaren und strahlend blauem Wasser unter den Zugbrücken und entlang der kleinen Städtchen durch die Natur rauschten. Ich war mir sofort sicher, dass diese Region zu den bisher schönsten gehörte, die ich überhaupt gesehen hatte. Gänzlich gebannt von der Schönheit dessen, was hinter den Fenstern des Zuges zu beobachten war, vergaß ich meine Kamera auszupacken. Da ich wusste, dass ich diese Route zurückfahren musste, genoss ich einfach und schwieg.

Gern würde ich jene Gegend im Herbst besuchen. Dann aber mit individueller Reisegeschwindigkeit und der Option einfach irgendwo halt zu machen. Wie wunderschön diese Region wohl sein würde, wenn sich eine ungesehene Farbenpracht über die Hügel und Berge erstrecken sollte. Bereits in diesem Moment konnte ich nicht umhin und mich verzaubern lassen. Dies waren die kleinen Augenblicke, die Magie einer Reise, die man schwer in Worte oder Bilder verpacken konnte. Die scheinbar willkürliche Verbindung einer inneren Einstellung, der damit einhergehenden Blickweise auf die Außenwelt und eben jener äußeren Welt, die mit vermeintlich wenig Aufwand eine einzigartige Stimmung in mir aufkommen ließ, fügten sich zu unvergesslichen Bildern und Empfindungen in meinem Kopf und Herzen. Ich spürte, wie mich diese Natur ergriff und meine manchmal zu schnell hochgezogene Wand aus Zynismus in sich zusammenfiel. Der heutige Tag würde ein guter Tag werden. Ich fühlte es.

Nach ungefähr anderthalb Stunden des Staunens und des seelischen Auftankens kam der Zug in Takayama an. Der hochmoderne Bahnhof entließ mich und hunderte andere Touristen in die Kleinstadt. Mit einem Kopfhörer im Ohr, in dem mir die mechanische Stimme den Weg zum Hotel vorgab, lief ich ferngesteuert zur Unterkunft. Das von mir gebuchte Ryokan lag nur Unweit vom Bahnhof und der Altstadt, die ich mir später noch ansehen wollte.

In der Unterkunft angekommen, natürlich wie so häufig viel zu früh, lernte ich meine Gastgeberin kennen. Sie war eine kleine und schätzungsweise über 70 Jahre alte Frau mit wachen Augen und freundlichem Lächeln. Ihr Rundrücken und die von ihr getätigten, flinken Bewegungen zeugten von einem Leben voller Arbeit und Effizienz. Ich versuchte meinen Respekt zu zeigen und so viel es ging auf Japanisch mit ihr zu reden. Überraschenderweise klappte das recht gut. Also verständigten wir uns darauf, gelegentlich den Übersetzer benützend, dass ich ein Frühstück dazu buchen wollte und vorerst das Gepäck abstelle, um nochmal auf Erkundung zu gehen. Sie klärte einige der bereits abgesprochenen Fakten zu ihrer Sicherheit und meinem Verständnis erneut ab, was ich in diesem Moment auch ein wenig dem fortgeschrittenen Alter zurechnete. Dies machte die kleine flinke Frau nicht weniger liebenswürdig und eine gute Gastgeberin, ganz im Gegenteil.

Mein mobiles Büro in Form meiner Umhängetasche teils entleert, die Kameratasche von etwas Ballast befreit und eine Zigarette vor der Tür später, lief ich langsam in Richtung meines ersten Ziels. Vor mir lag ein kleiner Anstieg auf den Hügel zum „Hida Village“, besagtem Dorf längst vergangener Tage. Als ich so durch die Nachbarschaft spazierte, fiel mir ein ums andere Mal auf, dass ich noch nie in einem Land oder Region war, wo grundsätzlich unterschiedliche Sphären des Lebens so unmittelbar und nah aufeinander trafen. Innerhalb von 10 Minuten langsamen Gehens passierte ich eine Schule, zwei Tempel, mehrere Tankstellen, Reisfelder und Gewächshäuser mitten im Ort und viele Getränkeautomaten mit den darin gekühlt stehenden Plastikflaschen. Immer wieder kam ich während der bisher erlebten Orte, wie auch Wochen später im Rückblick auf den gesamten Monat, zu einem Fazit: Japan ist das Land des gelebten Dualismus. Doch dazu an anderer Stelle mehr.

Während ich den Hügel, auf dem das Dorf Hida auf seine Besucher wartete, bestieg, bemerkte ich eine architektonische Besonderheit. Schon als ich mit dem Zug auf die Stadt zufuhr, stach dieses Gebäude auf eigentümliche Art hervor. Es war schlichtweg gigantisch. Zwei unverhältnismäßig große Häuser, die dort mitten im Nirgendwo der Berge aus der Stadt Takayama emporragten. Beide Dachkonstruktionen erinnerten an umgedrehte Schiffsrümpfe, das Eine strahlend Weiß, das Andere in Gold und mit einer sicherlich riesigen, roten Kugel gekrönt.

Ich hätte mir nicht ausdenken können, was sich tatsächlich darin befand. Diese beiden Gebäude bildeten das Hauptquartier der „Sukyo Mahikari“ Sekte. In den darauf folgenden Tagen befasste ich mich mit der Sektenthematik ein wenig und fand folgendes heraus. Japan hatte seit Ende des zweiten Weltkriegs ein rasantes Wachstum an religiösen Gruppierungen zu verzeichnen. Zur selben Zeit entstanden übrigens auch die bis heute im Untergrund agierende Yakuza. Das Entstehen der Sekten ließe sich laut der Quellen meiner Recherche durch verlorene Identität, die Suche nach neuen Perspektiven und einer wachsenden Entfremdung von der eigenen Regierung und Gesellschaft erklären. Die meisten dieser Sekten waren vergleichsweise harmlos. Eine Gruppierung in der Geschichte japanischer Sekten hingegen wurden durch Giftgasanschläge in Mülleimern der U-Bahn Tokios bekannt und führten zu Todesstrafen ihrer Anführer. Daraufhin folgte auch die Verbannung sämtlicher Mülleimer auf öffentlichen Plätzen in weiten Teilen Japans.

Die sich dort in Takayama für alle sichtbar platzierte Sekte schien allerdings eine der nicht aggressiven Sorte zu sein. Wobei man auch sagen muss, dass selbst die für die Anschläge verantwortliche Sekte „Ōmu Shinrikyō“ (Achtung! heute heißt die Sekte „Aleph“) damals vom Dalai Lama als herausragende Organisation gesegnet wurde. Die sehr oberflächliche Recherche zur Sukyo Mahikari verwies mich Skeptiker zurück an meinen Platz. Es schien eine gemeinnützige Organisation zu sein, die sich in vielen Belangen um ein besseres Leben und Miteinander zu kümmern schien. Ich glaubte und glaube allerdings nur schwer daran, wenn sich Köpfe dieser Organisation ein solches unverhältnismäßig riesiges Denkmal ins Nirgendwo Japans setzen ließen. Prestige, Status und sehr, sehr viel Geld strahlten diese Gebäude aus. Dies waren alles nicht unbedingt vertrauenserweckende Indikatoren für einen gelebten Altruismus und die Hinwendung zu Themen wie Armut und Hunger. Meiner Empfindung nach ein Paradox mit weißem und goldenem Dach.

Ich wandte meinen Blick von diesen Bauten ab und folgte dem Weg den Hügel hinauf. Links und rechts von der Straße zum Dorf der alten Lebensweise reihten sich Souvenirgeschäfte und einige wenige Wohnhäuser. So manches Restaurant hatte bereits seine Zeit hinter sich und wartete nun verlassen, leer und verrottend als Ruine auf den Abriss. Selten sah ich baufällige oder unbenutzte Häuser, man hatte bei der begrenzten Menge an bewohnbarem Grund und der Fülle an Menschen, einfach sehr wenig Spielraum für etwaige Nichtbenutzung.

Nach einiger Zeit den Hügel aufwärts betrat ich endlich das Dorf. Der Obolus für den Eintritt in diese aufwendig in Stand zu haltende Anlage war lachhaft gering. Anscheinend sorgten die Temperaturen dafür, dass sich so gut wie niemand außerhalb klimatisierter Räumlichkeiten aufhalten wollte. Das Freiluftmuseum blieb dementsprechend leer, sodass ich fast allein in jedes Gebäude, dessen historischen Kontext und die damit verbundene Lebensweise eintauchen konnte.

Mit dem Betreten des Dorfs gelangte man zuerst an den großen Koi-Teich, auf dessen gegenüber liegender Seite einige der mit Reisstroh bedeckten Häuser standen. Entlang des angelegten Gewässers, das von einer Quelle gespeist wurde, reihten sich kleine Hütten, die mit Geschicklichkeitsspielen auch die jungen Besucher begeistern wollten. Doch niemand war dort zum damit spielen. So lagen sie alle unberührt und gelangweilt herum, auf jemanden der ihnen Sinn verlieh wartend. Das Dorf war konzentrisch um den Teich und über mehrere am Hang aufwärts gelegene Wege angelegt. Die Gebäude mit der größten Bedeutung, wie das Haus des Rates, befand sich an höchster Stelle. Dort versammelten sich damals die Ältesten, natürlich nur Männer.

Ein Liebhaber der Architektur hätte im Dorf Hida seine Freude, denn die vielen unterschiedlichen Bauweisen der verschiedenster Gebäudetypen dieser Region waren zum Anfassen nah und über mehrere Jahrhunderte hinweg präsent. Natürlich strotzte die gesamte Anlage vor penibler Sauberkeit und wurde permanent in Stand gehalten. Hier und da konnte man die Restaurierungsarbeiten sehen und man hörte einige Arbeiter und ihre Holzwerkzeuge klopfen und sägen. Inmitten des Museums befanden sich auch kleine Handwerker beziehungsweise Kunsthandwerker. Eins dieser Gewerke war das traditionelle Schnitzen. Die kleine und flache Hütte war voll mit lokalen Gehölzen, die sich durch ihre natürliche Farbgebung wunderbar eignete, um Licht und Schatten an zu schnitzenden Figuren darzustellen, ganz ohne nachträglich Färbung des Holzes.

Der Schnitzkünstler war gerade dabei eine weitere der filigran ausgearbeiteten Figuren zu schnitzen, als ich in die Werkstatt trat. Er erklärte mir nicht viel, sondern reichte mir sofort einen mehrsprachigen Informationszettel, auf dem das Kunsthandwerk beschrieben wurde. Als ich meinen Blick schweifen ließ, fiel mir ein Paar Essstäbchen ins Auge, die vor schlichter Schönheit brillierten. Sie schienen an dem Ende, das in der Hand lag oktagonal aus dem Holz gespalten, liefen zur Spitze rund zu und waren federleicht. Auch sie waren aus eben jenem wundervoll farbigen Holz gearbeitet worden. Zwar hatte ich bereits genügend Stäbchen für mich und alle meine Freunde, doch konnte ich nicht umhin diesen Kunsthandwerker zu unterstützen und mir ein praktikables Mitbringsel zu kaufen. So kaufte ich dieses einzige Paar übrige Stäbchen, verweigerte das Rückgeld von ein paar hundert Yen und bekam so zum Dank noch eine Esstäbchenablage (Hashioki; 箸置き) in Form eines glatt polierten Zweiges geschenkt.

Ich kehrte nach einigen Stunden Aufenthalt zurück zum Hotel, es war mittlerweile früher Nachmittag und ich wollte mich ein wenig ausruhen. Auch mich ließ die Hitze nicht unberührt, denn ich wurde sehr schnell müde. Wegen des vielen Schwitzens kam ein Unwohlsein über mich, das sich vom Tropfen und Kleben meines Körpers verstärkt auf das psychische Wohlbefinden auswirkte. Also ging es zügig den Hügel hinab, den Blick noch einmal über das Städtchen und die gigantischen Sekten-Tempel schweifen lassend, zurück in das Ryokan mit der alten Dame.

Nun betrat ich mein Zimmer und genoss einen Moment der Klimatisierung und des ausgestreckt Liegens. Eine wahrhaft wundervolle Entspannung war dieses alle Gliedmaßen von sich abspreizen und der Gravitation fügen, eine Selbstverständlichkeit mit großem Glückspotential.

Der frühe Abend rückte näher und ich wollte die Gelegenheit wahren mich mit der so hoch gelobten Altstadt vertraut zu machen. Außerdem nahm ich die Gelegenheit beim Schopfe mich in einen der örtlich ansässigen Teeläden zu begeben und dort etwas Tee zu kaufen. Nur ein paar Minuten eines gemächlichen Fußwegs später stand ich plötzlich an einem Tempel, der von einem riesigen Baum beschattet wurde. Zu erst realisierte ich gar nicht, dass dieser saftig grüne Riese in irgend einer Art anders gewesen sei. Als ich mich dem Stamm näherte bemerkte ich erst, dass dieser unfassbar groß und dick unter der dichten Krone stützend stand. Das Informationsschild an der Absperrung um den Wurzelbereich unterwies mich der Tatsache, dass dieser Gingko-Baum (eh eine der coolsten Pflanzen, die es gibt) ungefähr 1000 Jahre alt sein sollte und einen Stammumfang von knapp 8 Metern maß. Ich versuchte mich sofort ins Jahr 1023 zurückzudenken, mir bewusst zu werden, was zu dieser Zeit in Europa so geschah und realisierte, dass ich einen reichlich groben Blick auf diese Epoche der Geschichte besaß. Geschweige hätte ich gewusst, was zu jener Zeit in Japan gerade von Statten gegangen wäre.

Als ich mich dann besagter Altstadt näherte stolperte ich über einen Laden, der nichts weiter war, als ein für Touristen ausgestatter Bogenschieß-Platz. Man konnte dort mit traditionellen japanischen Langbögen ein paar Schüsse abgeben, natürlich für einen Preis, der nicht gerade günstig war. Die anleitende und erklärende Person dieses Bogenschießladens erzählte, dass am heutigen Tage eine Yukata-Festival in der Stadt abgehalten würde. Nun erklärte sich mir, warum so viele Menschen in den traditionellen Gewändern umher liefen und überall Yukatas auf den Straßen verkauft wurden. Dankend für die Informationen und den Einblick ins Bogenschießen verließ ich den Laden und machte mich auf zum Teegeschäft.

Es war ein sehr schöner Teeladen, dem man sein Alter ansehen konnte. Die Besitzerin verriet mir, nachdem sie ein wenig rechnete und überlegte, dass sie schon seit 40 Jahren dort arbeiten würde. Ein stolzes Lächeln, mit einer Spur der Wehmütigkeit, ob der vergangenen Jahre, konnte sie trotz der häufig versteckten und wenig expressiven Mimik in Japan doch nicht verschleiern. Sie war es, die mich beriet und mit mir über den Tee sprach. Viele der dortigen Sorten wurden unweit dieses Geschäfts angebaut und produziert. Sie schmeckten ganz großartig. Ja, richtig sie schmeckten.

Eine Besonderheit japanischer Teeläden war es wohl, dem interessierten Kunden die Möglichkeit zu bieten den Tee zu kosten. So nahm mich die Besitzerin bei Seite, in einen kleinen Bereich hinter einer halboffenen Wand direkt neben dem Verkaufstresen. Dort standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle, von dem sie mir einen anbot mich doch zu setzen. Ich nahm gern Platz und wartete gespannt auf das, was nun passieren sollte. Die Geschäftsführerin holte kochendes Teewasser, goß dieses Mehrfach von einer Kyusu in eine offene Kanne und zurück. So verlor das Wasser in kurzer Zeit einen Großteil der Temperatur, welche sie immer wieder mit ihren Händen an der Außenwand der Kanne auf Richtigkeit überprüfte. War die korrekte Temperatur gefunden, goß sie den von mir zu kostenden Tee auf. Ich teilte meine Eindrücke und sie merkte, dass ich kein Anfänger war. Sie freute sich sichtlich über einen deutschen Touristen (Ja, auch dort wurde ich gefragt, woher ich denn komme), dessen Kenntnis über Kräuteraufgüsse hinausging. Gänzlich begeistert schlug ich dort zum ersten Mal so richtig zu und verließ den Laden mit fast einem halben Kilo Tee unterschiedlichster Anbaugebiete und Arten. Ich betrat die Straßen wieder mit der einsetzenden Abenddämmerung, die sich wie eine lauwarme Decke über die Straßen legte. Das ganze Viertel der Altstadt und die umliegenden Straßen füllten sich zunehmend mit Besuchern des Yukata-Festivals. Die Lichter der Straßenbeleuchtung und Geschäfte illuminierte die Wege in einem leichten orange-gelben Ton. Einige der westlichen Familien, die mit mir am frühen Nachmittag den Zug nach Takayama teilten, liefen nun in Yukatas gekleidet und mit Flip-Flops oder flachen Sommerschuhen über das Festival. Ob sie sich kleideten oder verkleideten, schien mir anhand ihres Gestus nicht ganz ersichtlich. Sie schienen sich Wohl zu fühlen und genossen scheinbar ihre neu gewonnene Beinfreiheit und Luftigkeit der traditionellen Kleidung.

Ein kleiner Musikladen stellte ein Klavier vor seinen Eingang, welches durchgehend von Kindern und Erwachsenen bespielt wurde. Ich war überrascht, auch irgendwo schockiert, wie gut so manches Kind von höchsten 7 Jahren die Tasten und Töne zu Musik verwandelte. Dieses Spielniveau war wirklich herausragend. Mich juckte es in den Fingern und ich spielte auch ein Stück am Klavier. Es war keines, das irgendwer kennen konnte und so lichtete sich mein Publikum. Nur wenige Meter entfernt baute sich grad ein Orchester auf und mit dem ersten Stück hatten sie mich gekriegt. Lange stand ich am Rand des Geschehens herum, bis ich mir schlussendlich einen Stuhl in Mitten der älteren Herrschaften organisierte. Ich teilte den Rest dieses Konzerts mit einer gesprächigen und seltsam schlierend redenden älteren Dame auf dem Sitz neben mir. Sie bot mir einen Bonbon an und wir nutzen die Moderationen zwischen den Stücken, von denen ich nur einen kleinen Bruchteil des Gesagten verstand, um uns auszutauschen.

Das Stadtorchester spielte ein wenig mehr als eine Stunde. Ich empfand große Freude an diesem warmen Sommerabend genau dort im Publikum zu sitzen. Ganz für mich, umgeben von tausenden Menschen, den orchestrierten Klängen großer Filme und natürlich auch Ghibli-Klassikern, die mir fast immer das Herz öffneten, saß ich dort. Später sah ich noch traditionelle Musik, kleine Acoustic-Bands, lokale Spezialitäten von kleinen Food-Ständen. In einer seligen Entspannung, schlenderte ich den restlichen Abend über das Festival.
Mit der eintretenden Müdigkeit, einem kleinen Hunger und viele Eindrücke reicher begab ich mich zurück zum Ryokan, das auch um 23 Uhr seine Pforten schließen sollte. Glücklicherweise traf ich die flinke Gastgeberin, die mir den Türschließmechanismus erklärte, sodass ich auch zu späterer Stunde noch einmal vor die Tür zum Aschenbecher schreiten konnte.

Ich konnte sogar das Fenster öffnen und dabei nicht von der Hitze und Feuchtigkeit erdrückt werden, solch ein angenehm milder Abend stand mir bevor. Noch einige Stunden lag ich auf dem Futon, bearbeitete ein paar Fotos und schrieb mit Freunden im fernen Deutschland. Kurz nach Mitternacht ergriff mich dann die Müdigkeit und ich fiel in tiefsten Schlaf, erledigt von diesem einzigartigen Tag voller kultureller Einblicke. Es war wirklich ein guter Tag.