Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo

1. Oktober 2023
6 Minuten gelesen
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel

Ich wachte schlagartig und viel zu früh auf. So verließ ich schon einige Stunden vor 10 Uhr das Hotel. Einerseits versuchte ich die noch „milden“ Temperaturen von 28 Grad am frühen Morgen zu nutzen. Andererseits hatte ich die Aussicht auf eine Unterkunft inmitten der Berge. Vielleicht würde ich es an diesem Tag endlich schaffen durch die Natur zu schleichen und mit dem Fotoapparat ein paar interessante Tiere abzulichten. Die Fahrt war der Gegend und Linie entsprechend langsam und schüttelte uns Gäste teils heftig auf den Sitzen hin und her. Es war eine dieser Bahnfahrten, die für sich allein schon einen Ausflug Wert war.

Das hinter den Fenstern des laut rasselnden und rauschenden Zugs liegende Panorama war wundervoll. Die Fahrt machte schon nach kurzer Zeit den Eindruck eine explizit für den schönen Ausblick gebauten Strecken zu sein. Viele kleine Ortschaften schlängelten sich entlang der Hänge und des durch das Tal schneidenden Flusses. Die Berge, die sich aus der Perspektive dieser mechanischen und auf Schienen kriechenden Raupe, bis zum Himmel erstreckten waren saftig grün und bunt. Zwischen den Nadelbäumen der höheren Lagen ragten immer wieder kleine Bambushaine hervor, welche von kräftigen Laubbäumen komplettiert ein abwechslungsreiches Farbenspiel der Grüntöne ergab. Die Zusammensetzung der Flora wirkte hier diverser, als noch im bergigen Norden Hokkaidos.
Immer wieder warf ich einen prüfenden Blick auf das Smartphone, um auf keinen Fall meine Station zu verpassen. Die Ansagen in den lokalen Linien war nur selten auch auf Englisch. Mit jedem weiteren Stopp dünnte sich die Bevölkerungsdichte aus und ich erreichte schlussendlich den Ort meiner Unterkunft.

Das Häuschen, in dem für gewöhnlich das Ticket kontrolliert wurde, war höchstens so groß wie ein Fahrzeug eines Paketzustellers und außerdem nicht besetzt. Ich steckte also den bereits aus dem mobilen Büro gezückten Rail Pass wieder weg und schaffte mir mit einem Blick nach Links und Rechts eine vollständige Übersicht des Ortes. Hier sagten sich Fuchs und Hase sicherlich noch gute Nacht. Auf dem Weg zum Ryokan wurde mir anhand der fehlenden Automaten schnell klar, dass ich wirklich in einer sehr abgelegenen Gegend angekommen war.

Das winzige Dorf um die Haltestelle Nakayamadairaonsen bestand aus genau zwei Straßen. Verwunderlich eigentlich, dass solch ein Ort eine eigene Station hatte. Es sollte sich als eine riesiger Gewinn herausstellen. Um fast fünf Stunden zu früh trottete ich schwitzend in die Unterkunft zum Check-In. Das Zimmer war noch nicht fertig. Ich legte meine Sachen schnaufend im Eingang ab und klärte mit der sehr freundlichen Geschäftsführerin, dass ich mir die Region ansehen wollte ohne das zusätzliche Gewicht. Sie erklärte mir mit einem Handheld-Übersetzer, der prompt in einer englischen Sprachausgabe ihr Gesagtes ausspuckte, dass der nächste offene Convenience-Store im nächsten Ort läge. Ich fragte wie lange ich dorthin laufen würde und erhielt die zuversichtlich machende Auskunft: ungefähr eine halbe Stunde.

Also begann ich zu laufen und wanderte mal hier, mal dort vom Weg ab und schaffte mir einen Einblick in die bergige Landschaft des nördlichen Teils Honshus. Die Hauptinsel Honshu war wirklich immens groß, immerhin knapp dreimal so groß wie Österreich oder fast so groß wie Rumänien. Diese Vorstellung half mir aber nicht, da ich trotz geringer Tragelast in Form von zwei doch recht leicht beladenen Taschen, einfach nicht vorankam. Mit steigendem Durst und einer gewissen Entmutigung bog ich in Richtung einer touristisch anmutenden Aussichtsplattform ab. Dort sammelten sich einige Besucher der Region, alle mit Auto unterwegs. Ich kaufte mir einen Tee am Automaten und versuchte mich im Gespräch mit einer älteren Frau. Diese hatte ein Objektiv an ihrer Kamera, dass nahezu so groß wie ihr Oberkörper war. Ich fragte was sie damit ablichten wollte und sie zeigte mir stolz das Adlernest auf der Spitze eines toten Baumes. Mein Versuch dieses interessante Bild des abgestorben, hellbraun kontrastierenden und verknöcherten Baums inmitten dieser lebendigen, saftig grünen und von steilen Abhängen gezeichneten Landschaft einzufangen, stimmte mich kurzzeitig zufrieden. Sie konnte mir aber leider auch nicht dabei helfen zum nächsten Ort zu kommen. Die Vögel waren von größerer Dringlichkeit.

Ich trat auf einen jungen Mann zu, der mir an der Hautfarbe und Kameraausrüstung klar als Tourist zu identifizieren schien und fragte, ob sie zufällig in meine Richtung weiter gefahren wären. Seine starke Abneigung gegenüber meiner Frage und scheinbar auch Person zu schlussfolgern, beließ ich es bei seinem Versuch mir kein klares Nein geben zu müssen und es doch indirekt zu tun. Mein Blick aufs Telefon ließ mich ein wenig in Unruhe verfallen. Der nächste Zug zu meiner Unterkunft würde in nicht einmal anderthalb Stunden von der Station meines Zielorts abfahren. Der nächste dann in weiteren drei Stunden danach. Ich hatte nicht vor so lange irgendwo in der Sonne schmorend herumzusitzen. Also blieb mir nichts als mich weiter an der Straße entlang in Richtung meines Ziels zu bewegen. Mir kam die Idee, dass ich doch einfach das Daumentaxi nutzen könnte. In der Sicherheit, dass dieses Mittel der Fortbewegung in Japan selten Anwendung fand, lief ich einfach weiter. Nur wenn ich in der Ferne das Rauschen von Autoreifen auf warmem Asphalt hörte, drehte ich mich zu ihnen um und legte mein freundlichstes und gleichzeitig verschwitztes Lächeln auf. Minuten vergingen bis sich endlich jemand erbarmte mich aus der brütenden Hitze zu erlösen.
Der Van gab mir die Lichthupe bei der Annäherung und bog auf einen kleinen Parkplatz am Rande der Straße ab. Ich erklomm das Fahrerhäuschen und wir begannen auf dem Weg einen kurzen Plausch. Er war so alt wie ich, arbeitete in dieser Gegend nur für ein paar Tage und war dann auf dem Weg zurück zu seiner Familie. Mein Versuch japanisch zu sprechen, traf bei ihm auf große Begeisterung. Mich meiner holprigen Sprachversuche lobend und sich bedankend für die Entscheidung Japan zu bereisen, ließ er mich direkt am 7-Eleven raus. Ich war überrascht wie es ein Mensch schaffen konnte mit einem herzlichen Lächeln und ein paar netten Worten meine ganze Stimmung und Perspektive zu drehen. Von nun an strahlten die Hügel und Dächer in noch ein bisschen kräftigeren Farben. Das tat sehr gut, nachdem ich mich so frustriert und auch irgendwie resigniert durch die Gegend geschleppt hatte.
Der Abend und Nachmittag war noch lang und ich kaufte deswegen, sicherlich aber auch wegen meines akuten Appetits, etwas mehr als ich eigentlich brauchte. Einen Teil aß ich genüsslich auf dem Weg zum Bahnhof, schließlich fuhr der Zug ja auch schon bald. Den Hügel auf der anderen Seite des den Ort teilenden Flusses erklimmend, sah ich die so typischen liebreizenden aus dunklem Holz gefertigten Häuser am Rand der Straße. Einige kleine Geschäfte hatten ihre Angebote halb auf dem engen Weg drapiert. Wäre ich nicht so in Zeitnot gewesen, ich hätte sicherlich etwas Geld dort gelassen. Auch die Kamera blieb wegen der Nahrungszufuhr vorerst in der Tasche. Es war nicht die erste und einzige Gelegenheit, die ich im Rückblick betrachtet, hätte wahrnehmen sollen, um Fotos zu machen. Doch ich merkte, dass eben jene Momente den Unterschied zwischen einem „echten Fotografen“ und mir ausmachten. Schließlich war dies meine erste Reise mit einem solchen Apparat und die Gewohnheit nach dem Auslöser zu Zucken noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen.

Der Zug trödelte ans Bahngleis und ich saß mit der Kamera bereit. Was mich erwarten würde, wusste ich ja bereits, da dies mein zweites Mal auf der selben Strecke gewesen sein sollte. Mir gelang es leider nicht zu meiner Zufriedenheit den räumlichen Eindruck und die oft nur einen Sekundenbruchteil langen und malerisch schönen Panoramen durch die Linse festzuhalten. In solchen Momenten wünschte ich mir schon im 22. Jahrhundert zu leben und mir das Gesehene einfach direkt aus dem Hirn in die Cloud laden zu können.
Mit ein paar hoffentlich schönen Bildern reicher kam ich am Hotel an und betrat nun endlich das Zimmer. Die Dusche und der Onsenbesuch konnten dieses Mal nicht bis zum Abend warten. Ich war früh dran und konnte die Räumlichkeiten für mich allein genießen. Kurz darauf ließ ich mich auf den Futon fallen und schlief prompt ein.

Ein paar Stunden später erwachte ich gut erholt und bereit mich meinem eingekauften Convencience Abendessen zu widmen. Ich schmatzte und schlemmte mir den Bauch voll. Die übrigen süßen Brötchen und Onigiri stellte ich in den Kühlschrank zurück, um sie dort am nächsten Morgen einfach stehen zu lassen und mich auf dem Weg über meine Schusseligkeit ein wenig zu wundern.
Der Abend streckte sich, immer mal schreibend, dann ein paar Fotos bearbeitend und gelegentlich in die warme Abendluft herauszutretend, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen. Der Nachthimmel war sternenklar und einfach wundervoll, untermalt vom leichten Rauschen des Windes in den Bäumen auf den umliegenden Hängen und besungen vom entfernten Zirpen der Zikaden.

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