Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis

29. September 2023
7 Minuten gelesen
  1. Eine Rucksackreise durch Japan – Erster Teil – Die Ausfahrt „Nichtraucher“
  2. Eine Rucksackreise durch Japan – Zweiter Teil – die ersten Schritte
  3. Eine Rucksackreise durch Japan – Dritter Teil – auf die inneren Werte kommt es an
  4. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierter Teil – Sprachbarrieren
  5. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfter Teil – Zu Gast bei Familie Takahashi
  6. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechster Teil – Heiß, Heißer, Onsen
  7. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebter Teil – It’s a Long Way From Home
  8. Eine Rucksackreise durch Japan – Achter Teil – Kontraste
  9. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunter Teil – Allein unter Tausenden
  10. Eine Rucksackreise durch Japan – Zehnter Teil – Yukatas, Trommeln und eine Erkenntnis
  11. Eine Rucksackreise durch Japan – Elfter Teil – Ein langes Gespräch und wenig Bewegung
  12. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwölfter Teil – Mitten im Nirgendwo
  13. Eine Rucksackreise durch Japan – Dreizehnter Teil – Die Magie der Zeit
  14. Eine Rucksackreise durch Japan – Vierzehnter Teil – Klima, Verkehr und ein Paar auf Hochzeitsreise
  15. Eine Rucksackreise durch Japan – Fünfzehnter Teil – Die Stadt des Tons
  16. Eine Rucksackreise durch Japan – Sechzehnter Teil – Eine Zeitreise
  17. Eine Rucksackreise durch Japan – Siebzehnter Teil – Kyoto, die Stadt der Reizüberflutung
  18. Eine Rucksackreise durch Japan – Achtzehnter Teil – Ein Tag in der Mall und eine Massage
  19. Eine Rucksackreise durch Japan – Neunzehnter Teil – Die Suche nach Tee und das Nachtleben
  20. Eine Rucksackreise durch Japan – Zwanzigster Teil – Körperlich ausgelaugt
  21. Eine Rucksackreise durch Japan – Einundzwanzigster Teil – Ein Tag im Nebel

Ich rüstete mich bereits am Vorabend mit einigen Reisesnacks aus und nahm nun den schnellsten Weg zum Bahnhof von Sapporo. Einfach raus aus dieser Stadt. Dieser, ebenso wie die Bahnstationen vergleichbar großer Städte, war riesig. Der Berliner Hauptbahnhof schien dagegen klein. In der Regel hing nämlich ein ganzes Einkaufscenter am Bahnhof, worin sich alles befand, was man als Anwohner oder Tourist finden wollte. Vom Restaurant, über Franchise Modemarken bis hin zu Massageläden fand man darin einfach alles.

Die Reservierung am Schalter für die nächste Zugfahrt vorzunehmen, fiel mir immer leichter, denn die nötigen Worte gingen mir nun schneller von der Zunge. Ich merkte anhand der Reaktionen, das niemand der japanischen Sprache Bemächtigte, auf diese Art einen Sitz reservieren würde. Für meine Zwecke hatte es in dem Moment vorerst gereicht.

Ich bestieg den Zug, suchte meinen reservierten Platz auf und stellte mein Tablet vor mich auf den Tisch. Ich begann zu schreiben und merkte eine mich tief ergreifende schlechte Laune. Die vorigen Tage schienen so ruhig, zwar anstrengend, dennoch von einer durchgehenden Begeisterung geprägt. Nun stresste mich die Stadt und die Unterkunft zum ersten Mal. Meine zunehmende körperliche Erschöpfung, die täglichen Reisen mit dem Zug, eben jene schweißtreibenden Anstrengungen während der Wege zur oder von der Unterkunft zum Bahnhof und eine sich steigernde Gleichgültigkeit machte sich breit. Häufig war ich nun müde, meine Muskulatur begann sich zu verhärten, mein Gesicht fühlte sich vom vielen Augenkneifen gegen die Sonne an, wie eine einzige Verspannung. Denn natürlich trug ich einfältiger Mensch keinen Hut oder Sonnenschirm. Hinzu kam ein zunehmend größer werdender und mir unerklärlicher Ausschlag auf der Vorderseite eines Oberschenkels. Ich rechnete es dem vielen Schwitzen und der ständigen Reibung durch die Umhängetaschen zu. Es sollte nicht dabei bleiben, wie sich im Späteren rausstellen solle.

In meiner Vorstellung verlief diese Reise zwar ähnlich, ich malte sie mir jedoch weniger anstrengend aus. Außerdem stellte ich mit erschrecken fest, dass das Rail-Pass-Ticket nun bereits über eine Woche alt war und ich nur einen kleinen Teil Japans gesehen hatte. Eine Besorgnis darüber, etwas nicht sehen zu können, das mir hätte Freude gebracht, eine Speise nicht gekostet zu haben, über die ich später lernen sollte, dass man sie UNBEDINGT gekostet haben musste oder einfach etwas wirklich schönes nicht gesehen zu haben, wuchs in mir und ich mochte diese Gefühl überhaupt nicht. Mir war bewusst, dass ich innerhalb eines Monats, beziehungsweise drei Wochen Rail-Pass, nicht ansatzweise all das sehen konnte, was das Herz und die Seele Japans ausmachte. Mich ärgerte mein Ärger und ich versuchte mir den Fakt, dass Japan von der Fläche sogar größer war als Deutschland, ins Bewusstsein zu rufen und mich damit zu beruhigen. Wer würde es auf die Beine stellen einmal Deutschland in drei Wochen erkannt und verstanden zu haben. Eine feine Illusion, die ich mir da ausgemalt hatte.

Mehr oder weniger unmotiviert schaute ich aus dem Fenster. Es setzte bereits jetzt eine zunehmende Egalität ein, die ich mit den Anwohnern teilte. Nicht mehr ganz so entzückt über jedes gewöhnlich aussehende Dorf und die einrahmenden Reisfelder schaute ich aus dem Fenster. Es war dennoch ein süßer Anblick und ich fantasierte ein wenig darüber, wie die Künstler Japans ihre Leben in solchen kleinen Dörfern und Städtchen verbrachten, davon geformt und beeinflusst wurden. Gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass dieses Land eine große Härte mit sich brachte. Die körperlich anspruchsvolle Natur, das Klima und die Vorstellung nicht den Komfort eines Zugs genießen zu können, ließ mich glauben zu verstehen, wie sich das Selbstverständnis großer Krieger bildete. Auch die im Manga „Lone Wolf & Cub“ gezeigte Hauptfigur, der seinen Sohn durch die unwirklichsten Gegenden in jedem Wetter in einem Karren bergauf- und bergabwärts schob, kam mir sofort in den Sinn. So ein harter Hund dieser Ogami Itto.

Nach Hachinohe (八戸市) sollte es ungefähr fünf Stunden dauern und ich gab mich meiner Müdigkeit einfach hin. Ich schlief, vom leichten Schaukeln des Zugs unterstützt, sogar recht tief. Am frühen Nachmittag endlich in Hachinohe angekommen, bestieg ich auch dort den Bus. Die Temperaturen schienen mir vor Ort sogar noch bissiger und intensiver. Gefühlt waren es wegen der hohen Luftfeuchtigkeit 37 bis 40 Grad und ich schmiss nach nur ein paar Metern den Plan zu Fuß zu gehen hin. Die Busfahrt verschaffte mir so einen gemütlichen Eindruck über die Stadt.

Am Hotel angekommen konnte ich mein Erstaunen und ein gewisses Gefühl deplatziert zu sein nicht verbergen. Ein mit edlem, glänzendem Marmor ausgekleidetes Foyer, Spiegel die bis zur Decke reichten und die im Biedermeyer-Stil eingerichtete Sitzecke präsentierten sich wie etwas, das für ein solch geringes Geld unwirklich schien. Die Unterschiede der Qualität der Unterkünfte und der dazugehörigen Preise war einfach enorm. Ich hatte im Vorfeld immer schwerer abschätzen können, wie meine folgende Unterbringung sein würde. Bei diesem Hotel, das anscheinend hauptsächlich von Anzug tragenden Geschäftsleuten und hübsch gemachten Damen besucht wurde, war sogar ein ausgiebiges Frühstücksbuffett im Preis inklusive. Ich fuhr mit dem Aufzug auf meine Etage, legte meine immer schwerer wirkenden Taschen ab und wusch meinen verschwitzten Körper gründlich.

Schon bevor ich im Ort ankam, recherchierte ich ein Kimono-Geschäft, immer noch auf der Suche nach solchen baumwollenen Yukatas, die jedes Ryokan zum Schlafen bereit legte. Ich fand ein sehr kompetent aussehendes Geschäft und betrat dies im Gesuch nach Yukatas. Sie präsentierten mir welche, die auf meine Körpergröße passen würden und ich probierte eine an. Der Baumwoll- und Leinenstoff wirkte noch recht rau. Die Verkäuferinnen versicherten mir aber, dass diese nach der ersten Wäsche weicher würden. Ich konnte mich nicht entscheiden zwischen zwei Modellen und entschied mich für ein „und“, anstelle eines „oder“. Erst einige Tage später sollte ich den Unterschied zwischen dem, was ich mir an diesem Tag kaufte, und dem von mir gesuchten Nachtgewand lernen. Es sind zwei völlig unterschiedliche Dinge! Vorerst verließ ich in froher Laune ob meiner neuen Errungenschaften den Laden. Ich bekam kurz vor dem Verlassen des Ladens einen dieser runden japanischen Fächer aus Holz und Papier geschenkt. Meine Vorfreude diese edlen Kleidungsstücke zu Hause zu tragen, wuchs schon auf dem Rückweg. Doch zunächst musste ich diese und den fragilen Fächer bruchsicher in meinem Rucksack verstauen. Eine kurze Phase des neu Sortierens und der praktischeren, griffbereiteren Anordnung meiner Kleidung später verließ ich das Hotel wieder. Der Tag war noch jung und mit einem schnellen, kalten Kaffee aus einem Convenience-Store infusioniert, schöpfte ich kurzzeitig neue Kräfte.

Meine Füße trugen mich in die Richtung des Hafens, von wo ich mir einen Überblick über die Stadt aus einer anderen Perspektive genehmigen wollte. Soweit würde ich es aber nie schaffen. Ich machte auf halber Strecke Stopp an einem Fast-Food-Restaurant, das ähnlich bunt und extravertiert schien, wie jedes andere beliebige Schnellrestaurant. Was mich dort erwarten würde, hatte ich aber nicht kommen sehen. Ich folgte dem Hinweis meines Bruders einen solchen Laden einmal zu besuchen und ich habe daher nicht weiter nachgefragt, worum es sich dort handeln könnte. Tatsache war das wohl schnellste und nahezu schlechteste Fast-Food, das ich auf der ganzen Reise gegessen haben sollte.
Die Bestellung wurde über eines der an jedem Tisch verfügbaren Tablets durchgeführt. Das Menü war auch in Englisch verfügbar, was mir die Orientierung erheblich erleichterte, da ich nicht nur durch die schlecht aufgelösten Bilder der Speisen, die sonst als Entscheidungshilfe fungierten, eine Wahl treffen konnte. Ich hatte das Essen schneller auf dem Tisch vor mir, als es ich zustande brachte mein Telefon zu zücken und mich über den nachfolgenden Weg zu informieren.
Man stelle sich die Art des Gerichts wie eine Schale Reis mit unterschiedlicher Auflage vor. In meinem Fall war es irgendetwas mit Käse und ein paar Gyoza (gebratene Teigtaschen) dazu. Es war nicht nur nicht sehr lecker, mein Magen hatte zudem noch einige Minuten danach schwer mit der fettigen und unbequem anstrengenden Verdauung dieses Gerichts zu kämpfen. Nun gut, dachte ich mir, hatte ich mit diesem „Gyudon“ auch mal ein japanisches „Currywurst mit Pommes“ Äquivalent kennengelernt.
Ich verbrachte die folgenden Stunden auf dem Parkplatz des Fastfood-Ladens, denn ich führte ein Telefonat. Überraschenderweise dauerte dieses länger, als ursprünglich gedacht und der Sonnenuntergang rückte mit schnellen Schritten näher. Also machte ich mich auf den Rückweg zum Hotel. Die Straßenbeleuchtung neben den Hauptverkehrsstraßen war nämlich bei Weitem nicht so überschwänglich, wie ich es aus Deutschland gewohnt war. In der Tatsache selten betretene Straßen nicht zwingend ausleuchten zu müssen, sehe ich viel sinnvolles. Auf einem schwer einsehbaren und teilweise unebenen Weg zur Unterkunft zu stolpern, wollte ich dennoch nicht.

Auf diese Weise kam ich dann wenigstens in den Genuss der überall im Ort verteilten traditionellen Trommelgruppen, die in den Stunden vor dem Sonnenuntergang übten. In der Einfahrt einer Feuerwache, vor einer Einrichtung für Kinder und an anderen Stellen sah und hörte ich das Spiel der Trommeln und Flöten. Die Kinder wurden häufig vom Leiter dieser Übungsgruppe an der großen, auf einem Ständer stehenden und leicht angeschrägten, Trommel mit dicken Schlagknüppeln im Tempo gehalten. Teilweise sangen sie dazu in hoher Lage, was in Kombination mit der schrillen Flöte und den kleineren Trommeln ein breites Klangbild erzeugte. Die Eltern standen vereinzelt um die Gruppen herum und beobachteten ihre Kinder. Während manche Elternteile das kleine Geschwister auf dem Arm zur Musik wippten und wiederum andere sich mit ihren Händen verhalten auf den Oberschenkel klatschten, stand ich als einziger Beobachter ohne jedweder Verbindung zu ihnen und der gespielten Musik mittendrin. Ich empfand eine eingehende Musterung der umliegenden Augenpaare und Kinder. Meine ans Handgelenk gebundene Kamera machte meinen Eindruck eines Touristen wohl unmissverständlich. Als ich mein Zimmer betrat und das Fenster öffnete hörte ich auch dort das Trommelspiel einer Gruppe, die auf der anderen Seite der Straße ihre Übungen machten.
Zum ersten Mal hörte ich traditionelle Musik. Die sonst sehr europäisiert-amerikanisierte Popmusik plärrte aus so gut wie jedem Lautsprecher in Einkaufshallen, gefühlt überall laufenden Fernsehern, in Convencience-Stores und auch in manchen Orten eigentlicher Ruhe, wie einem Café. Die Andersartigkeit dieser von Rhythmus geprägten Musik sollte mir in ein paar Tagen auf einem Straßenfest noch einmal begegnen.

Vorerst legte ich mich auf das Single-Bed und wollte mich in das Kopfkissen graben. Doch klatsche ich mit dem Kopf auf etwas, das mehr einem Stein glich, als einem weich federnden Kissen. So etwas hartes hatte ich noch nie gefühlt. Ein Block einer Kopfauflage von ungefähr 15 bis 20 Zentimetern Höhe, schätzungsweise in der Länge meines Unterarms, das sicher ausschließlich für Rücken- oder Seitenschläfer gedacht sein konnte. Zum Glück war dieses Hotel vorbereitet auf etwaige Auslandstouristen und ein kleineres, weiches Kissen lag bereit. Noch ein wenig entzückt vom Telefonat, den ergatterten Yukatas und der einstweilig erschreckenden Fast-Food Erfahrung, dämmerte ich irgendwann einfach weg und schlief so lang, dass ich fast das Frühstück verpasst haben sollte.

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