Gut erholt und mit seltsamen Träumen gesegnet, die von einem unabgeschlossenen Fahrrad, das ich mit dem Zug reisend, auf einem Bahngleis stehen ließ, um es später wieder abzuholen, handelten, machte ich auf zum Bahnhof. Ich hatte im Beisein Electras in Hakodate gelernt, den doch sehr simplen Busverkehr zu nutzen und wollte nicht wieder ein Taxi bestellen. Also eilte ich, zeitlich sehr knapp eingefädelt, nach dem georderten Frühstück, den Hügel hinab zum Bus. Dort stand ich nun in der prallen Sonne.
Viele Japanerinnen trugen einen Sonnenschirm mit sich, der den nötigen Schatten spendete. Dennoch ersann ich mir dies als ebenso unpraktisch, bezüglich meiner so sehr favorisierten Freiheit der Hände, wie das Ziehen eines Rollkoffers. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass ich die höchste Person war. Selbst der ausgewachsene Mann neben mir war einen halben Kopf kleiner als ich. Auffällig groß sind die Jugendlichen, deren Wege die meinen kreuzten. Da allerdings unverhältnismäßig viele alte Menschen in den von mir besuchten Gegenden lebten, erhärtete sich der Eindruck einer klein gewachsenen Bevölkerung. Fast einhergehend damit waren die bucklig runden Rücken, die dem Alter ihre bekräftigende Form verliehen.
Der Bus rollte ein, wir bestiegen diesen alle durch den mittleren Eingang. Dort befand sich der Ticketschalter, aus dem man nur ein kleinen Zettel, ähnlich einer Wartenummer beim Amt, herauszog oder mit seiner Abo-Karte oder Smartphone digital eincheckte. Den Rucksack nicht abnehmend, um den Kraftakt des wieder Aufsetzens zu umgehen, quetschte ich mich halb schräg auf die eine Hälfte der letzten Sitzreihe. Die Gänge waren so schmal, dass ich dringend darauf Acht gab keine Köpfe oder Schultern mit den seitlichen Auslegern oder dem dicken Ende meines großen, blauen Rucksacks anzurempeln. Die gemütliche Fahrt gab mir noch einige Momente mit Asahikawa, das ich in guter Erinnerung behalten würde.
Am Bahnhof angekommen orientierte ich mich kurz und suchte das Ticket-Büro auf, um die Fahrt nach Sapporo (札幌市) zu buchen. Die Angaben auf Google-Maps zur Routenplanung sind dann doch nicht ganz so vollständig und übersichtlich, wie man es vermuten mochte. Die Mitarbeiter gaben mir die Zettelchen für die reservierten Sitzplätze und ich machte mich auf zum Gleis. Die Zeit zum Einsteigen war kurz und es gehörte sich nicht zu trödeln, schließlich ist der Zeitplan der Züge eng gestrickt und ohne Rücksicht auf Bummler.
Nur einige wenige Stunden würde ich im Zug sitzen und mich nun doch von der atemberaubenden Natur faszinieren lassen können. Ich stellte mir vor, wie es gewesen sein musste dort zu leben, bevor das Auto und der Zug diese Natur bändigte. Sicherlich waren die Sommer vor 150 bis 200 Jahren nicht immer so anstrengend heiß wie dieser Tage, dafür jedoch die Fortbewegung umso kräftetreibender und langwieriger. Ich wusste aus Mangas und anderen Texten, dass andere Fortbewegungsmittel außer den eigenen zwei Füßen für die gewöhnliche Bevölkerung verboten und auch finanziell nicht zugänglich waren. Vielleicht erkläre sich so die bis heute anhaltende Begeisterung für das Wandern unter Japanerinnen.
Ich purzelte aus dem Zug und machte mich auf, mit der Kamera ums Handgelenk gewickelt, zum Hotel. Ungefähr eine halbe Stunde lief ich durch die Innenstadt und bemerkte erst auf dem Weg, dass ich mich in die Nähe des Rotlichtviertels eingebucht hatte.
Die Unterkunft, kam ihrem Namen mehr als gerecht, denn es gab dort „Nada“. Die geteilte Dusche hatte eine Abluft, die so schlecht war, dass man sich bereits beim Betreten zu egal welcher Tages- oder Nachtzeit wie in einer Dampfsauna fühlte. Die Zimmer hatten keine Klimaanlage, was bei der wenigen Luftzirkulation im Haus eine wirkliche Herausforderung für eine entspannte Nachtruhe darstellte. Es schien eher wie ein umfunktioniertes Wohnhaus, als ein Gasthaus. Die Besitzer dieser Unterkunft wohnten hinter der Rezeption, in einem angebauten kleinen Komplex. Doch allein die Rezeption war ein Graus. Es war teils Wohnzimmer, teils Büro, das bis unter die Decke mit Kram vollgestellt war, eingehüllt in eine nie verschwinden wollende dämmerige Dunkelheit beleuchtet von einem immerzu laufenden Fernseher. Allerdings war dies das einzige Hotel, dass mit einem Schnäppchenpreis von ungefähr 50€ die Nacht noch verfügbar war und sich in der Nähe des Bahnhofs befand. Ich plante so wenig Zeit wie möglich dort verbringen zu müssen. Also schnappte ich mir mein mobiles Büro und die Kamera und fuhr mit der U-Bahn zurück zum Hauptbahnhof Sapporo. Dies war meine erste Fahrt mit U-Bahn.
Es ist erstaunlich wie einfach und übersichtlich die Auswahl des richtigen Tickets gewesen ist. Man suchte sich lediglich die angepeilte Station über eine englischsprachige Suche am Ticketautomaten heraus, schmiss das Geld in Münzen oder Scheinen in die jeweiligen Schlitze und wurde unter lautem Piepsen daran erinnert weder das Ticket noch das Wechselgeld zu vergessen. Das Piepen hörte erst auf, wenn der Essensmarken große Fahrschein aus der Maschine gezogen wurde. Nun nur noch das Ticket an den Schranken mit der Schrift nach oben in den Schlitz stecken. Die Schranken öffneten sich ruckartig und ein lautes Stanzgeräusch später erschien der Fahrschein mit einem kleinen Loch im Rand am Ende der Schranke, wo man diesen wieder herauszog und seinen Weg zum Bahngleis begann. Ich würde im Verlauf des Aufenthalts eine rasche Routine entwickelt haben und fühlte mich mehr als ein Teil der hektischen, wenn auch unaufgeregten Massen an Fahrgästen.
Die Fahrt mit dem überaus gemütlichen, sehr gut besuchten Lokalzug vom Sapporo Bahnhof nach Otaru, schien sich eine Ewigkeit zu ziehen. Ich sah mich um und war nach kurzer Musterung, der einzige europäische Tourist weit und breit. Die Ernüchterung über die miserable Unterkunft und ein schleichendes Gefühl der Isolation durch die große Sprachbarriere beförderte eine Selbstwahrnehmung des Einzelgängers. Nun ja, das war ich schließlich, allein mit dem Rucksack in eins der kulturell und geografisch entferntesten Länder, die man sich aussuchen konnte. Dennoch war diese Empfindung überschattet von einer sich einstellenden Melancholie, einer gewissen unbeteiligt sein am Dasein aller anderen. Ich wurde mehr und mehr zu dem stillen Beobachter, dessen gesprochene Worte sich auf ein Minimum aller nötigster sozialer Interaktionen beschränkte. Hinzu kam, dass mein Energielevel rapide sank und ich dringend etwas essen musste.
Ich stieg eine Station vor dem Ortskern aus und lief durch eine Einkaufshalle auf der Suche nach einer Yukata. Ich mochte diese Art der Bekleidung für die Nacht und nach dem Duschen. Fündig wurde ich in den Geschäften nicht, fand dafür aber einen Supermarkt, in dem ich mich mit Onigiri, Kaffee und einer Auswahl an Mochis eindeckte. Damit gewappnet, schlich ich aus dem Gebäude und setzte mich draußen in den Schatten des Komplexes auf den Boden, die Beine ausgestreckt und an die rotbraune Fassade angelehnt. Das kleine Mittagessen schmeckte mir, die Getränke belebten meine Geister und ich ließ meinen Blick gelegentlich über die Hafenanlagen auf der anderen Seite der Straße wandern. Während ich dort saß, kamen immer wieder einzelne Personen oder kleinen Grüppchen aus dem Einkaufscenter heraus, stellten sich ein wenig ab vom Eingang neben einen Getränkeautomaten und rauchten. Trotz der überall darauf hinweisenden Beschilderung, fanden auch hier die Menschen Wege sich an den Regeln vorbei zu bewegen. Ich lief beispielsweise an einer sehr renitenten, älteren Dame vorbei, die den Zettel mit der Aufschrift „Rauchen verboten“ einfach bei Seite schob und es sich auf einer Bank gemütlich machte.
Ich brachte meinen Müll, nach der Mittagspause im Schatten der Mall, auf dem Weg ins Center in die jeweilig beschrifteten Mülleimer. Etwas, über das ich mich die ganze Zeit schon wunderte, war die immense Menge an Müll, die hier ganz selbstverständlich jeden Tag produziert wurde. Eine kurze Internetrecherche stieß mich auf Zahlen, die schwindelerregend groß waren. Täglich würden über 1 Kilogramm Müll pro Person entstehen. Im Vergleich dazu stehe Deutschland mit fast 2kg insgesamt generiertem Abfall schlechter da. Der Anteil recycelter Materialien und die Verwendung von Einwegplastik sei allerdings deutlich weniger umweltfreundlich in Japan. Umso wunderlicher war es, dass sich im öffentlichen Raum keine Mülleimer finden ließen. Dafür stand in jedem Laden und manchmal auch direkt neben einem dieser Millionen Getränkeautomaten ein Eimer für den jeweiligen Zweck. Sauberkeit allgemein spielt hier wirklich eine extrem wichtige Rolle. Nicht sehr eigenartig also, dass ich mit meinen schon ausgeblichenen schwarzen, nun rötlich schimmernden, kurzen Hosen und dem durchs Wetter verursachten Schweiß am ganzen Körper beäugt werde.
Nicht gerade selten glitzerte speckiges, blau lackiertes Blech auf den zur Straße hin geneigten Flachdächern. Eine eigensinnige, sicherlich schlichtweg den klimatischen Gegebenheiten entspringende Gestaltungsweise. Allerdings betraf dies auch nur die besagten alten Häuser, die man nicht abriss. Die neuen Wohnblocks und weiter oben am Hang stehenden Einfamilienhäuser reihten sich in bekannter Weise nebeneinander auf. Das stark kontrastierende Farbspiel der Fassaden deutete schnell auf eine Epoche hin, denn neuere Häuser waren häufig weiß oder in gedeckten Farben verputzt worden. So erkannte man auch schon beim schnellen Blick in eine der hunderten kleinen Gässchen und einspurigen Straßen, wo sich eine „alte Nachbarschaft“ befand. Ein Japaner sagte einmal zu mir, dass sie es gern bequem und einfach mochten. Kaum vorstellbar bei einer solch komplexen Bauweise. Ich sollte aber in naher Zukunft bezüglich der Konstruktion von Häusern eines besseren belehrt werden.
Ich nutzte die Kälte der Einkaufspassage, um so weit wie es möglich war in Richtung meines kommenden Ziels zu laufen. Ich steuerte ein Kamerageschäft an, das in der Altstadt lag. Meine Hoffnung dort vielleicht ein Schnäppchen zu schlagen, wurde allerdings enttäuscht. Die Rollläden waren unten und es schien auch so, als würde sie an diesem Tag niemand mehr öffnen. Da ich nun schon in der besagten, gut aussehenden Altstadt war, nahm ich die Gelegenheit beim Schopfe und wanderte den Hügel hinauf, auf dem die Stadt gebaut wurde. Der Baustil glich zu weiten Teilen der überall präsenten Stilistik. Viel dunkles, manchmal schwarzes Holz, sich kreuzende und ineinander verschränkte Latten, Leisten und Stäbe, die der Fassade ihre Lebendigkeit verliehen. Doch sah man nun anstatt der sonst so häufig mit dunklen Ziegeln gedeckten Dächer metallische Dachkonstruktionen.
Die Zeit verstrich rasant im langsamen Schlendergang. Der Blick auf die Stadt, den Hang hinab in Richtung Hafen, hatte den Aufstieg und jeden Tropfen Schweiß lohnenswert gemacht. Das Gefühl für die Zeit und die langsam sinkende Sonne verriet mir, dass es sehr bald dunkel würde und ich verspürte einen aufkommenden Hunger, der mich zurück zum Bahnhof trieb. Ich wollte die Fahrt zurück nach Sapporo nutzen und mich schon für den kommenden Tag nach einer Unterkunft im Internet umsehen. Auf dem Weg zurück würde mir dies vorerst nicht gelingen.
Meine Station wurde aufgerufen und ich strömte mit den anderen hinaus in die immer noch warme und feuchte Luft der Stadt. Auf dem Weg zum Hotel, wie gesagt unweit vom Rotlichtviertel, hatte ich einen ersten Eindruck vom Nachtleben in Japan. Die Straßen füllten sich mit Eleganz verkörpernden Menschen, laute Gespräche, ausgelassenes Gelächter und große Gruppen trinkender und rauchender Menschen vor Bars und Restaurants. Die am Tage geltenden Konventionen bezüglich der Freizügigkeit und der Einhaltung des Nichtrauchens wurde nun nicht mehr so streng gesehen. Ich lief in andächtigem Tempo, still und beobachtend durch die von bunten Lichtern beleuchteten Straßen. Mit meiner Kamera in der Hand versuchte ich Menschenkunde zu betreiben. Mir wurde es allerdings zunehmend unangenehm, wenn sich ganze Gruppen feierwütiger Menschen zu mir umdrehten. Eigenartig diese Superfähigkeit, zu spüren, wann einen Jemand anstarrte.
Überwältigt und überfordert von der Situation machte ich mich auf den Weg zum Hotel, kaufte auf dem Weg noch bei einem Konbini ein und freute mich nicht auf das Zimmer. Einige der anderen Gäste waren noch bis spät in die Nacht unterwegs, denn es rumpelte im Flur und die Türen klackten laut, wenn das Holz der Schiebetüren an den Rahmen knallte. Ich richtete mir den Ventilator auf den Körper und versuchte es erst gar nicht damit mich zuzudecken. Nach einiger Recherche fand ich schließlich auch eine Unterkunft im Nordosten der Hauptinsel, in einem beschaulichen Ort namens Hachinohe. Die Zugfahrt würde lang werden, aber ich hatte keine Lust mehr auf Hokkaido und wollte so schnell es ging aus dieser Stadt raus.